Wolfgang Hühr
gestorben am 07.12.2002
in Freienlande
Wolfgang Hühr erfror am 7. Dezember 2002 im Alter von 35 Jahren auf einem Feldweg bei Freienlande nahe Stralsund, weil zwei Polizisten ihn im betrunkenen und hilflosen Zustand dort aussetzten. In Vernehmungen und vor Gericht wurden die sozialdarwinistischen Einstellungen der verantwortlichen Beamten deutlich. Die im Stralsunder Polizeirevier jahrelang gängige Praxis, Menschen an den Stadtrand zu verbringen und dort sich selbst zu überlassen, führte zu einer landesweiten Diskussion, in der sich auch der damalige Innenminister rechtfertigen musste.
Biografie
Der Mann, den die meisten in Stralsund als »Tapete« oder Epi kannten, hieß mit bürgerlichem Namen Wolfgang Hühr. Er wurde am 19. Dezember 1966 in Greifswald geboren und wuchs zunächst bei seinen Eltern in der Greifswalder Bahnhofstraße auf. Mit zehn Jahren kam er für einige Monate in ein Kinderheim in Bandelin und anschließend nach Barth. Als er 16 Jahre alt ist, zog er nach Rostock ins Dierkower Jugendwohnheim.
Über den weiteren Verlauf seines Lebens ist bisher nichts bekannt. Es muss aber ein bewegtes Leben gewesen sein, denn seinen Spitznamen »Tapete« bekam er wegen seiner zahlreichen Tätowierungen am ganzen Körper. Vor allem durch seine Kopf-Tattoos und seine kurzgeschorenen Haare fiel »Tapete« auf. Dadurch war er in Stralsund vielen Menschen zumindest vom Sehen bekannt und die Nachricht über seinen Tod löste – bei einigen – Empörung aus.
Zuletzt wohnte Wolfgang Hühr bei einem Bekannten in der Stralsunder Hainholzstraße. Bei seinem Freund kam er lange unter, weil er selbst keine eigene Wohnung hatte.
Wolfgang Hühr war langjährig alkoholabhängig. Im Stralsunder Klinikum wollte er Ende 2002 einen Alkoholentzug machen. Seine ursprüngliche Entlassung war für den 9. Dezember geplant, er verließ die Klinik aber bereits am 3. Dezember auf eigenen Wunsch.
Die Tat – «Die Person stört den Ablauf«
Als Wolfgang Hühr am Abend des 6. Dezember auf der Straße unterwegs ist, trifft er zufällig seinen Kumpel Dieter B. Dieser habe von Bekannten ein paar Möbel geschenkt bekommen und könnte noch Hilfe beim Tragen gebrauchen. »Dann musst du einen ausgeben!«, antwortet Wolfgang Hühr. »Epi war angetrunken, aber gut drauf«, so Dieter B. später.
Nach getaner Arbeit gehen die beiden in den Sky-Markt am Frankendamm im Stralsunder Zentrum, der kurz vor Ladenschluss voll mit Kunden ist. Zwischen den Regalen trinkt Wolfgang Hühr mindestens eine Drittel Flasche Korn, bis der Marktleiter kommt und ihn und Dieter B. zum Zahlen auffordert. Sie gehen zur Kasse, bezahlen den Schnaps und wollen gerade gehen, als Wolfgang Hühr durch den Sturztrunk ohnmächtig zusammenbricht und auf den harten Fliesenboden fällt. Der Marktleiter ruft schnell Rettungssanitäter zur Hilfe. Bis zu deren Eintreffen ist Wolfgang Hühr wieder bei Bewusstsein. Die Sanitäter untersuchen ihn und stellen fest: Der Mann ist »leicht betrunken«, aber »zeitlich und räumlich orientiert«12003 – Hinz&Kunzt – Der Tote von Stralsund – Wie zwei Polizisten eine „Störung“ beseitigen. Dass er kurz zuvor ohnmächtig war, wissen sie nicht und geben die Verantwortung an die mittlerweile eingetroffenen Polizisten mit den Worten ab: »Das ist kein Fall für uns!«
Doch warum soll Wolfgang Hühr nach seinem Zusammenbruch ein Fall für die Polizei sein? Die beiden angeklagten Polizisten sagten später vor Gericht, der Marktleiter haben ihnen gesagt: »Die Person stört den Ablauf!« Schließlich wolle er den Markt schließen. Der Marktleiter bestritt diese Aussage. Wolfgang Hühr sagte laut Zeug:innen, er wolle »nach Hause«.
Als die beiden Polizisten Rainer V. (46) und Ronny D. (26) Wolfgang Hühr gegen seinen Willen in ihr Auto mitnehmen »um die Störung zu beseitigen«22003 – Hinz&Kunzt – Der Tote von Stralsund – Wie zwei Polizisten eine „Störung“ beseitigen, widerspricht niemand der Anwesenden. Sie setzen ihn auf den Boden des Polizeibusses, aus Angst er könne sich auf die Sitze übergeben. Inwiefern es während der Fahrt zu Wortgefechten und Handgreiflichkeiten kam, konnte nicht abschließend geklärt werden.32003 – Nordkurier – Aussetzungen von Hilflosen soll Praxis gewesen sein Die Beamten beschuldigen Wolfgang Hühr, aggressiv gewesen zu sein und ihnen mit Rache gedroht zu haben.
Statt ihn jedoch zu seinem vorübergehenden Zuhause zu fahren oder in eine Ausnüchterungszelle zu sperren, entschließen sich die beiden Polizisten, ihn in ein winziges Dorf mehrere Kilometer außerhalb von Stralsund zu fahren. Bei Freienlande haben sie schon oft sogenannte »Störer« ausgesetzt. Dort gibt es keine Bushaltestelle, keinen Laden, kein Lokal. An einem dunklen Feldweg, einen Kilometer von Freienlande und knapp anderthalb Stunden Fußweg von seiner Unterkunft entfernt, setzen sie ihn bei zwei Grad Kälte und starkem Wind auf die Straße. Der Polizeibeamte Rainer V. behauptet später vor Gericht, dass Wolfgang Hühr selbstständig das Auto verlassen hätte.
Auf ihrem Rückweg informieren die Polizisten den Innendienst über die »Aussetzung« und bitten dabei den diensthabenden Beamten, einen näher an der Stadt gelegenen Ort im polizeilichen Tagebuch zu vermerken. Zurück in der Wache sollen sie laut eines Zeugen gesagt haben: «Der hat ganz schön Glück gehabt, dass wir uns in der Gewalt hatten!«42003 – Hinz&Kunzt – Der Tote von Stralsund – Wie zwei Polizisten eine „Störung“ beseitigen
Am nächsten Morgen findet ein Rentner Wolfgang Hühr tot auf – nur etwa 200 Meter vom Ort der »Aussetzung« entfernt. Die Beamten, die den Fall aufnehmen, sehen zunächst mehrere Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod. Es habe ausgesehen, als wäre Wolfgang Hühr abgelegt worden, die Jacke halb heruntergezogen, auf dem Bauch liegend und einen Arm auf dem Rücken. Die Obduktion ergab jedoch schließlich die Todesursache „Unterkühlung im Zusammenwirken mit der bei dem Geschädigten vorhandenen Alkoholintoxikation“.52003 – Nordkurier vom 9.7.
Wolfgang Hühr ist erfroren, weil er in hilfloser Lage mitten im Nirgendwo ausgesetzt und ohne Hilfe alleine gelassen wurde.
«Restlose Aufklärung«
Nachdem Wolfgang Hührs Tod in der Presse bekannt wurde, beichtete Rainer V. die Tat seinem Freund und Kollegen Polizeiobermeister Axel R.. Dieser erstattete erst auf Drängen seiner Frau Strafanzeige. Die Stralsunder Kriminalpolizei ermittelte fortan gegen die eigenen Kollegen wegen »Aussetzens einer hilfsbedürftigen Person«.
Kurz vor Weihnachten 2002 wurden die beiden Polizisten vom Dienst suspendiert und ein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet. Innenminister Gottfried Timm (SPD) kündigte eine restlose Aufklärung des Falles an, sein Ministerium nehme »die Sache« sehr ernst. Dennoch ließ er, noch vor dem Vorliegen von Ermittlungsergebnissen, verlautbaren, er gehe von einem Einzelfall aus. In einer Dienstanweisung an alle Polizeiwachen veröffentlichte das Innenministerium im März 2003 klarstellende Regeln für ähnliche Fälle und verdeutlichte, dass die sogenannten »Ortsverbringungen« – wie das Aussetzen im Polizeijargon heißt – kein zulässiges polizeiliches Mittel seien.
Unter dem Anklagevorwurf »eine hilflose Person der Freiheit beraubt und deren Tod durch das Aussetzen in Kauf genommen zu haben« begann am 26. Juni 2003 der Strafprozess vor dem Landgericht Stralsund. Aufgrund der politischen Brisanz der Tat war das Medieninteresse groß. Mit Verhandlungsbeginn wurde auch erstmals die Empörung einiger Menschen über die Tat lauter. Einer der Angeklagten berichtete, dass er auf der Straße beleidigt und mit Schlägen bedroht wurde, mit den Worten: »Das ist doch der Bulle, der einen hat draufgehen lassen!«. Er sieht sich nun selbst als Opfer und berichtet: »Mir wurde nichts anderes beigebracht! Man guckt sich von den Kollegen ja was ab. Man wollte ja auch vorwärts kommen.«62003 – Hinz&Kunzt – Der Tote von Stralsund – Wie zwei Polizisten eine „Störung“ beseitigen
Bei der Erörterung des Tatablaufes stellte sich heraus, dass sich der ältere Beamte, Rainer V., im Nachgang der Tat bei seinem Kollegen und Freund über den als Trinker bekannten Wolfgang Hühr ausließ und die Tat mit sozialdarwinistischen Beleidigungen rechtfertigte. »Wäre er ein normaler Bürger, hätte es mir Leid getan«, aber er sei nur ein »Knasti und eine Dreckfresse« gewesen, so wird der 46-Jährige zitiert72003 – Ostsee-Zeitung – Polizist belastet angeklagte Kollegen. Auch der jüngere Polizeibeamte, Ronny D., soll laut Aussage des Hauptbelastungszeugen gesagt haben, »H. sei ein Säufer, wie sein Vater, deshalb könne er Alkoholiker nicht leiden.«82003 – Hinz&Kunzt – Der Tote von Stralsund – Wie zwei Polizisten eine „Störung“ beseitigen
Doch während der 46-jährige Rainer V. den Prozess und selbst die Schilderung des Gerichtsmediziners ohne eine Reaktion oder ein Zeichen der Reue über sich ergehen ließ, ging seinem jungen Kollegen laut Prozessbeobachtern der Prozess und seine Beteiligung nahe. Er weinte und entschuldigte sich mehrfach.
Ein Großteil der Verhandlung drehte sich um die Frage, ob die sogenannten »Ortsverbringungen« eine gerechtfertigte polizeiliche Maßnahme seien.
Beide Täter rechtfertigten ihre Tat damit, dass das Aussetzen von »Störern« und alkoholisierten Personen an entlegenen Orten übliche Praxis wäre 92003 – Hinz&Kunzt – Der Tote von Stralsund – Wie zwei Polizisten eine „Störung“ beseitigen. Trotz seiner erheblichen Alkoholisierung hätten sie keine Bedenken gehabt, dass Wolfgang Hühr den Weg nach Hause schaffe. Ronny D. sagte, er hätte es in der Ausbildung so beigebracht bekommen. Rainer V. erinnerte sich an 40-60 Fälle, in denen Betrunkene, Fußballfans oder andere »störende« Personen aus der Stadt gefahren wurden. Übliche »Verbringeorte« waren die Mülldeponie Kedingshagen, das Umspannwerk, der Grünschnittplatz in Freienlande und sogar die 16 Kilometer entfernten Orte Oberhinrichshagen und Kummerow.
Statt selbst die Verantwortung für ihre sozialdarwinistisch motivierte Tat zu übernehmen, verweisen die Täter auf ihre Dienstherren in Stralsund und Schwerin, die diese Praxis duldeten.
Einer von ihnen, Thomas Laum, damaliger Leiter der Stralsunder Polizeidirektion, war vor Gericht geladen. Noch im Januar 2003 ließ er verlautbaren, die Polizei habe dafür zu sorgen, »dass hilflosen Personen nichts Schlimmes passiere«, sie also nach Hause oder in eine Ausnüchterungszelle gebracht werden102003 – Ostsee-Zeitung vom 28.6.. Im Gerichtsprozess musste er ein halbes Jahr später jedoch gravierende Verstöße im Umgang mit alkoholisierten Personen einräumen und zugeben, dass Aussetzungen in seinem Revier häufiger vorkamen. Dies ergab eine vom Innenministerium angeordnete Überprüfung aller Polizeidienststellen. »Die meisten [Ortsverbringungen] endeten […], indem die Betroffenen nach Hause, ins Klinikum oder ins Obdachlosenheim gebracht wurden« berichtet Laum für sein Revier. Bei etwa 20-30 Fällen könne er sich aufgrund fehlender Dienstbücher nicht festlegen 112003 – Nordkurier vom 9.7.. Mitunter wären Betroffene aus Mangel an Verwahrzellen an den Stadtrand gefahren worden. »Als letzte Maßnahme zur Durchsetzung eines Platzverweises« rechtfertigte er Aussetzungen122003 – Nordkurier vom 9.7..
Der Verteidiger Rainer V.s sieht die Verantwortung beim Innenminister, da dieser Ortsverbringungen als Methode gebilligt hätte und beantragt auch ihn vorzuladen – ohne Erfolg132003 – Ostsee-Zeitung vom 9.7.. Im Laufe des Prozesses wird jedoch deutlich, dass sich Wolfgang Hühr, auch abseits der Diskussion um die Rechtmäßigkeit von Ortsverbringungen, nichts zu schulden kommen ließ, was eine solche Maßnahme rechtfertigte. Ein Platzverweis wurde nicht erteilt. Vielmehr hätte er nach seinem Sturz Hilfe gebraucht. Das Handeln der Beamten ist in erster Linie mit ihrer Verachtung gegenüber dem als Trinker bekannten Wolfgang Hühr zu erklären, wie es in ihren Äußerungen deutlich wird.
Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Angeklagten in ihrem Plädoyer vor, dass sie mit dem Aussetzen Wolfgang Hührs »einen erhöhten Arbeitsaufwand verhindern wollten, indem sie ihn nicht in eine Ausnüchterungszelle brachten.«142003 – Ostsee-Zeitung vom 27.6. Auch die Richterin warf den Polizisten vor sich nicht über den genauen Gesundheitszustand informiert zu haben. »Es gab keinen Grund, den friedlich sitzenden Betrunkenen am Stadtrand auszusetzen. Ein Platzverweis hätte gereicht.«152003 – Frankfurter Allgemeine Zeitung – Obdachlosen ausgesetzt: Mehr als drei Jahre Haft für Polizisten
Während die Staatsanwaltschaft eine Bewährungsstrafe forderte, plädierte die Verteidigung auf Freispruch. Verurteilt wurden die beiden Polizeibeamten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten wegen Freiheitsberaubung und fahrlässiger Tötung – für viele Prozessbeobachter:innen überraschend.
Die Richterin begründete das Urteil damit, dass die Beamten bewusst eine Gefährdung Wolfgang Hührs in Kauf genommen hätten. »Die Tat der Beamten sei eine reine Willkürmaßnahme gewesen, um dem Betrunkenen eine Lektion zu erteilen. Als sie den Mann bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ausgesetzt hätten, hätten sie die Gefahr des Todes in Kauf genommen.«162003 – Frankfurter Allgemeine Zeitung – Obdachlosen ausgesetzt: Mehr als drei Jahre Haft für Polizisten Die sozialdarwinistische Einstellung der Täter spielte im Urteil allerdings keine zentrale Rolle.
Reaktionen
Von Reaktionen der Ziviligesellschaft, einem Gedenken an Wolfgang Hühr oder öffentlichen Beileidsbekundungen, ist bislang nichts überliefert.
In der Berichterstattung findet stellenweise vielmehr eine neuerliche Stigmatisierung des Verstorbenen statt. So wird Wolfgang Hühr in einigen Artikeln unterstellt, er hätte in dem Supermarkt randaliert, obwohl er vielmehr ohnmächtig zusammengebrochen ist.
Das bewusste Zurücklassen einer hilflosen Person wird in der Ostseezeitung verharmlosend als erprobte, hilfreiche Maßnahme beschrieben, die viele Polizisten anwenden würden.172003 – Ostsee-Zeitung vom 27.6. Auch in einem Kommentar in der Schweriner Volkszeitung wird Wolfgang Hühr zu einem randalierenden Stadtstreicher herabgewürdigt, während den Polizisten als »Müllmänner der Gesellschaft« Verständnis entgegengebracht wird, wenn sich bei ihnen Hass entwickelt.182003 – Schweriner Volkszeitung vom 10.7. Während den Tätern, die Polizisten waren, in den meisten Artikeln die Unschuldsvermutung zugestanden wird und ihr Handeln teilweise gerechtfertigt wird, fällt es einigen Autor:innen anscheinend leicht unüberprüfte Anschuldigungen gegen das Opfer zu veröffentlichen. Dieser gehörte als ehemaliger Gefangener und bekannter Trinker zu einer Gruppe, die gesellschaftlich marginalisiert wird und der wenig Glaubwürdigkeit zugesprochen wird, auch wenn sie selbst angegriffen werden.
Wolfgang Hühr ist nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.
In Stralsund erinnert bis heute nichts an die Tat.