Dragomir Christinel
gestorben am 14.03.1992
in Saal
Am 14. März 1992 überfiel ein Mob rechter Jugendlicher aus rassistischen Motiven eine Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende in Saal bei Ribnitz-Damgarten. Sie attackierten die Bewohner:innen unter anderem mit Baseballschlägern und Leuchtspurgeschossen. Viele konnten sich durch eine Flucht aus dem Fenster retten. Doch der erst 18-jährige Dragomir Christinel wurde bei dem Angriff tödlich verletzt.
Dragomir Christinel wurde am 4. April 1973 in Bistrița, Rumänien, geboren und lebte seit Dezember 1991 als Asylsuchender in Rostock. Seine Freizeit verbrachte er mit seinen Freund:innen. Sie schraubten an alten Autos und probierten, diese wieder fahrtüchtig zu machen. Dragomir Christinel sah darin nicht nur ein Hobby, sondern auch die Chance, sich damit eine berufliche Tätigkeit und finanzielle Sicherheit aufzubauen.
Am 13. März 1992 fuhr Dragomir Christinel von Rostock nach Saal, um übers Wochenende Freund:innen in der dortigen Asylunterkunft zu besuchen. In einer ehemaligen Baracke der Nationalen Volksarmee (NVA) waren zu jener Zeit hauptsächlich Menschen aus Rumänien untergebracht – viele davon jung und alleinstehend wie Dragomir Christinel. Er hatte viele Bekannte unter den knapp 60 Menschen, die keine andere Wahl hatten, als diese ehemalige Radarstation der Sowjetarmee und spätere NVA-Baracke im vorpommerschen Niemandsland ihr Zuhause zu nennen. Wenn Dragomir Christinel zu Besuch war, vertrieben sie sich gemeinsam die Zeit, schraubten auf dem Hof an alten Autos oder gingen aus.
Die Tat
Auch an jenem Freitagabend fährt Dragomir Christinel mit mindestens einem Freund in das nahe gelegene Petersdorf, um den Abend dort in der »Flying-Diskothek« – einer klassischen Dorfdisko – zu verbringen. Im Verlauf des Abends rücken die beiden immer mehr in den Fokus des lokalen Stammpublikums. Sie werden auf der Tanzfläche bedrängt und anschließend unter »Ausländer raus«-Rufen aus dem Lokal geworfen. Auf dem Parkplatz stehen Dragomir Christinel und sein Freund dann einem Dutzend Männer gegenüber, die sie weiter bedrängen. In der bedrohlichen Situation weiß sich Dragomir Christinels Begleiter nicht anders zu helfen, als ein Messer zu ziehen, um den Angriff abzuwehren. In der darauffolgenden Auseinandersetzung verletzt er einen jungen Mann mit dem Messer, was ihm und Dragomir Christinel etwas Zeit für die Flucht aus der Situation verschafft.
Nach dieser Situation sammeln sich schnell aufgebrachte Diskobesucher vor dem Lokal. Mehrere Männer fahren los, um Dragomir Christinel und seinen Freund zu verfolgen – zunächst mit zwei Bussen, die ihnen vom Besitzer der Bibliothek gestellt werden. Später steigen sie in private Autos um. In einem der Autos sitzt der spätere Haupttäter John-Pieter G. Dragomir Christinel und sein Freund sind währenddessen mit einem Taxi auf dem Weg zurück zur Geflüchtetenunterkunft. Unterwegs treffen sie auf ihre Verfolger, die ihnen bis zur Unterkunft nachfahren. Als die beiden dort aus dem Taxi steigen, kommt es zu einem Wortgefecht mit den Männern. Der Wachschutz der Unterkunft kommt hinzu und die jungen Männer kündigen an: »Wir kommen morgen wieder und zwar auch mit Waffen!«
Zurück in Petersdorf besprechen sie sich mit weiteren Männern. Inzwischen haben sie in Erfahrung gebracht, dass die mit dem Messer verursachte Verletzung nicht lebensgefährlich war, der Verletzte jedoch für die Nacht in stationärer Behandlung bleiben muss, Gemeinsam beschließen sie einen bewaffneten Überfall auf die Asylunterkunft in Saal am kommenden Abend. Man müsse klar machen, dass solche »Angriffe auf Deutsche« nicht unbeantwortet bleiben.
Am Abend des 14. März sammeln sich etwa 30 bis 40 junge Männer zwischen 16 und 21 Jahren auf dem Gelände der »Flying-Diskothek“ und trinken zur zusätzlichen Enthemmung Alkohol. Viele von ihnen waren schon am Abend zuvor dabei, andere wurden extra für den Überfall angerufen. Sie sind größtenteils vermummt und tragen Handschuhe. Bewaffnet sind sie mit Knüppeln, Baseballschlägern und anderen Schlagwerkzeugen, Messern, Leuchtspurgeschossen und mindestens einer Gaspistole. Laut späteren Ermittlungen der Polizei machen sich gegen 22 Uhr mindestens 29 Personen in mindestens sieben Autos auf den Weg nach Saal. Augenzeug:innen berichten nach der Tat von bis zu 40 Angreifern.
Sie gehen sehr organisiert und geplant vor: Die Autos werden an verschiedenen Stellen im Neubaugebiet unweit der Unterkunft abgestellt, um nicht schon auf dem Weg als Gruppe erkannt zu werden und die spätere Flucht abzusichern. Aus unterschiedlichen Richtungen begeben sich die Kleingruppen zu einem Treffpunkt an der Unterkunft. Gemeinsam überwinden sie mehrere Zäune, verstecken sich vor dem Wachschutz und schleichen sich in das Gebäude. Auf dem Flur treffen sie auf eine junge Bewohnerin. Sie halten ihr den Mund zu und fragen nach Dragomir Christinels Freund. Sie antwortet ihnen nicht, reißt sich geschockt los und flüchtet. Die Täter schießen eine Leuchtspurkugel über den Flur, was für erhebliche Rauchentwicklung und Chaos unter den Bewohner:innen sorgt. Einige Angreifer stürmen in einzelne Zimmer der Unterkunft. Diese sind größtenteils leer, da viele Bewohner:innen zum Zeitpunkt des Angriffs gemeinsam im Fernsehraum sitzen und sich von dort durch ein Fenster retten können.
Dragomir Christinel feiert hingegen mit zwei weiteren Personen den Geburtstag eines Freundes in dessen Zimmer, als John-Pieter G. und andere hereinstürmen. Einer der Tätererkennt Dragomir Christinel wieder, der auf einem Bett liegt. Er geht auf ihn zu, versetzt ihm mit seinem Knüppel zwei Schläge und fragt, wo der Freund vom vorherigen Abend sei. Dragomir Christinel antwortet ihm nicht. Daraufhin will die Gruppe das Zimmer zunächst wieder verlassen. Doch dann schlägt der Angreifer mit seinem Knüppel auch noch einen jungen Mann, der in Angst zwischen zwei Betten geduckt sitzt und sich schützend die Hände über den Kopf hält. Auch Dragomir Christinel, der immer noch auf dem Bett liegt, versucht sich mit den Händen zu schützen. John-Pieter G. schlägt mehrmals auf ihn ein, mit dem Baseballschläger in beiden Händen. Anschließend flüchten die Angreifer, zerstören auf dem Weg noch sämtliche Scheiben und hinterlassen ein komplett verwüstetes Haus.
Nachdem die Täter sich entfernt haben, kommen die restlichen Bewohner:innen den Verletzten zu Hilfe. Bei Dragomir Christinel können sie keinen Puls mehr feststellen. Die Autopsie stellt später als Todesursache eineunmittelbar durch die Schläge verursachte Hirnblutung fest. Sein Freund kann mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus behandelt werden und überlebt den Angriff.
Ermittlungen und Gerichtsprozess
Bereits am kommenden Tag wurde ein Großteil der Täter von der Polizei identifiziert und vernommen. Obwohl sich die Behörden somit schnell ein Bild vom Tatkomplex machen konnten, leugneten sie die politische Dimension des Angriffs gegenüber der Öffentlichkeit. Bernd Teichmann, Sprecher der Polizei in Rostock, sagte unmittelbar nach der Tat gegenüber der taz, es gebe »keine Hinweise auf politische Hintergründe oder Ausländerfeindlichkeit«. Vielmehr sei die Tat als Racheakt für den »Messerangriff« in der »Flying-Diskothek« zu verstehen1taz vom 18.3.1992 – Jugendliche erschlagen Flüchtling. Auch der Rostocker Oberstaatsanwalt Martin Slotty sah Rache als Tatmotiv. Mit »Ausländerfeindlichkeit« hätte der Angriff »nichts zu tun«, immerhin hätten die Täter weder kahlrasierte Glatzen, noch hätten sie Springerstiefel getragen, so Slotty2Berliner Zeitung vom 18.3.1992 – Aus Rache für den Freund wurde Totschlag. Von mindestens 29 Tätern wurden letztlich nur drei angeklagt.
Im Juni 1992 endete der Prozess vor dem Bezirksgericht Rostock. Der vorbestrafte 18-jährige Haupttäter John-Pieter G. wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit schwerem Landfriedensbruch zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Das Gericht blieb damit noch deutlich unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die sieben Jahre Haft forderte. Der andere 18-Jährige, der ebenfalls auf Dragomir Christinel eingeschlagen hatte, war nicht vorbestraft und wurde wegen gefährlicher Körperverletzung und schwerem Landfriedensbruch zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Das Gericht setzte sich dafür ein, dass er seine durch die Untersuchungshaft entstandenen Ausbildungslücken aufarbeiten und seine Ausbildung fortsetzen konnte. Der dritte belangte Tatbeteiligte, der wegen mehreren vorherigen Straftaten zum Tatzeitpunkt auf Bewährung war, kam mit einer Verlängerung seiner Bewährung um weitere drei Jahre davon. Da ihm nur nachgewiesen werden konnte, die Fenster der Unterkunft zerstört zu haben, wurde er wegen Sachbeschädigung und schweren Landfriedensbruchs verurteilt. Mindestens 26 weitere Tatbeteiligte wurden nicht belangt.
Nachgang
Die Unterkunft in Saal wurde in Folge des Angriffs geräumt und die Bewohner:innen aus Sicherheitsgründen an einem anderen Ort untergebracht. Auf die Frage eines Journalisten, was sie denn nun von den Deutschen halten würden, antwortete ein Freund von Dragomir Christinel: »Es gibt Gute und es gibt Schlechte – ich weiß jetzt nur nicht, vor wem ich mich mehr in acht nehmen muss.«
Dragomir Christinel ist das erste dokumentierte Opfer rechter Gewalt seit 1990 in Mecklenburg-Vorpommern. Die Tat steht relativ am Beginn einer massiven Welle rassistischer Gewalt, die mit den Pogromnächten im nur 40 km entfernten Rostock-Lichtenhagen weltweit Aufmerksamkeit erlangte. Der tödliche Angriff auf Dragomir Christinel blieb nach kurzer Aufregung jedoch weitgehend unbeachtet – Fragen wurden nicht gestellt, eine Aufarbeitung blieb nahezu aus. Die Öffentlichkeit setzte sich wenig kritisch mit der Täter:innen-Szene auseinander und debattierte über »Jugendgewalt« und »Perspektivlosigkeit«. Währenddessen blieben einige der Täter weiterhin in der rechten Szene in und um Ribnitz-Damgarten aktiv. Betroffene wurden weiter rassistisch ausgegrenzt, insbesondere rumänische Asylsuchende einfach abgeschoben. Eine Auseinandersetzung oder auch nur die klare Benennung der Tatmotivation blieb aus.
Auf die Notwendigkeit weiterer Auseinandersetzung wiesen schon unmittelbar nach der Tat einige Antifaschist:innen hin. So hieß es im Antifaschistischen Infoblatt (AIB): »Die zunehmende Gewaltbereitschaft ‚normaler‘ Jugendlicher ist keine unerklärliche Entwicklung ohne gesellschaftliche Ursachen.«
Doch erst fast dreißig Jahre später wurde von Aktivist:innen ein Gedenken in Ribnitz-Damgarten initiiert, auf dem auch der Bürgermeister der Bernsteinstadt, Thomas Huth, deutliche Worte fand: »Wäre es ein Deutscher gewesen, wäre es anders gelaufen. […] Der Grund ist, dass er Ausländer war. […] Wenn er ein Deutscher gewesen wäre, dann hätte es am Ende auch den Ärger gegeben, aber dann wäre er nicht tot gewesen.«
Dragomir Christinel ist seit 1993 als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.