header.php
single.php

KEIN VERGESSEN.

TODESOPFER RECHTER GEWALT IN M-V

template-parts/content.php

Eckhard Rütz

gestorben am 25.11.2000
in Greifswald

Der 42-Jährige Eckhard Rütz wurde in der Nacht auf den 25. November 2000 von drei rechten Jugendlichen brutal ermordet. Die Täter waren der Ansicht, »so einer« wie Eckhard Rütz würde »dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche« liegen.

Eckhard Albert Wilhelm Rütz wurde am 29. August 1958 in Greifswald geboren. Er wuchs als das mittlere von drei Geschwistern in der Greifswalder Altstadt auf. Im Jugendalter trennten sich seine Eltern, woraufhin er mit seinen beiden Schwestern bei seiner Mutter blieb, die als Verkäuferin arbeitete. Eckhard Rütz hatte stets ein gutes Verhältnis zu seiner Familie und litt unter der Trennung seiner Eltern. In der Schulzeit wird er als Außenseiter beschrieben, der bereits früh »übermäßig Alkohol« konsumierte. In der achten Klasse begann er häufig in die Disko zu gehen und fand dadurch Anschluss an Gleichaltrige.
Im Sommer 1975 machte Eckhard Rütz seinen mit «gut” bewerteten Schulabschluss der zehnten Klasse an einer Greifswalder Oberschule. Anschließend fing er eine Ausbildung zum Landmaschinenschlosser im VEB Landtechnisches Instandsetzungswerk in Stralsund-Andershof an. Sein Arbeitgeber bemerkte, dass Eckhard Rütz sich gut ins Kollektiv einzufügen wusste. Zur gleichen Zeit kam er jedoch zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt. Eckhard Rütz wurde vorgeworfen, gemeinsam mit Freunden mehrfach Mopeds entwendet und mit ihnen umhergefahren zu sein. Zudem versuchten sie, einen Versicherungsbetrug zu begehen. Sie zerstörten das Moped eines Freundes und ließen es wie einen Unfall aussehen. Der einzige Haken an der Sache: die jungen Männer vergaßen, im Vorfeld eine Versicherung auf das Moped abzuschließen und gingen somit leer aus. Für die Delikte wurde Eckhard Rütz zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilt. Seine Strafe saß er in der Jugendhaftanstalt Wriezen bei Neuruppin ab und zog anschließend wieder bei seiner Mutter ein. Auch sein alter Betrieb nahm ihn wieder auf und Eckard Rütz konnte seine Lehre erfolgreich abschließen. Seine Arbeit wurde im Betrieb mit »gut« bewertet, wenngleich ihm Probleme mit Pünktlichkeit bescheinigt wurden und er innerhalb der Belegschaft ein Außenseiter blieb.
Mit 20 Jahren muss Eckhard Rütz wegen eines weiteren Diebstahldeliktes erneut ins Gefängnis. Diesmal verbrachte er ein halbes Jahr in der Haftanstalt Rostock-Warnemünde. Nach seiner Entlassung wurde ihm von staatlicher Seite eine Wohnung in der damals heruntergekommenen Greifswalder Innenstadt zugewiesen. Arbeit fand er diesmal im VEB Reparaturwerkstatt, jedoch beschwerte sich auch hier der Betrieb über Unpünktlichkeit und Trunkenheit am Arbeitsplatz. Nach Aussage seiner Vorgesetzten resignierte Eckhard Rütz schnell, wenn ein Problem nicht leicht lösbar schien. Im Januar 1980 wurde er wegen mehrfachen Fehlens schließlich entlassen.
Die folgenden Jahre bis zum politischen Zusammenbruch der DDR verbrachte Eckhard Rütz in verschiedenen Betrieben, unter anderem im VEB Sekundärstoffe in Greifswald und der Zuckerfabrik in Stralsund. Zudem sind zwei Verurteilungen zu Bewährungsstrafen im April 1980 und im Januar 1985 bekannt, die wahrscheinlich auf seine fehlende Arbeitsbereitschaft zurückzuführen sind. Nach dem Paragraphen 249 im Strafgesetzbuch der DDR konnten jene Menschen verurteilt werden, die nach Ansicht der Führungseliten die öffentliche Ordnung durch »asoziales Verhalten« gefährdeten. Obwohl Alkoholismus in der DDR durchaus weit verbreitet war, wurden Alkoholiker:innen oftmals nach §249 verurteilt, wenn ihre Produktivkraft oder ihre grundsätzliche Arbeitsbereitschaft unter ihrem Konsum zu leiden schien. Bis Ende der siebziger Jahre galten dabei sogenannte Arbeitshausstrafen als angemessen. Erst zu Beginn der Achtziger Jahre veränderte sich der staatliche Umgang der DDR mit Alkoholismus. Das Problem wurde auch medial stärker thematisiert und erste Angebote zur Suchttherapie entstanden. Ob Eckhard Rütz in der DDR jemals Unterstützungsangebote erhielt, ist ungewiss. Seine Mutter forderte staatliche Unterstützung ein, als sie sich im Januar 1989 verzweifelt an die Abteilung Inneres der Stadt, wandte und mitteilte, dass ihr Sohn aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit seit nunmehr zwei Jahren nicht arbeiten ginge und sein Geld durch Schrottsammeln verdienen würde. Die Behörde gab dafür jedoch Eckhard Rütz die Schuld und bezeichnete ihn als »willensschwach« und »labil«.

§ 249 StGB der DDR - »Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten«
Auf dem Gebiet der damaligen DDR galt ab 1968 ein Strafgesetzbuch, in dem mit dem Paragraph 249 »Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten« die Tradition eugenisch begründeter nationalsozialistischer Ausgrenzung und Verfolgung von obdach-, wohnungslosen oder suchtkranken Menschen fortgeschrieben wurde. Auch wenn dabei, anders als im Nationalsozialismus, die Ziele Kontrolle und Anpassung mittels Zwang und nicht Vernichtung waren, hießt es: »Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht oder wer sich auf ändere unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht erkannt werden.«*§249 Abs.1 StGB-DDR i.d.F.v. 1.6.1969
In der DDR wurde diese Gesetzgebung damit begründet, dass »Asozialität« als Isolation von der sozialistischen Gesellschaft diese direkt gefährde. Von 1969 bis zum Zerfall der DDR wurden nach diesem Paragraphen (und seiner geänderten Fassung ab 1977) 160.142 Fälle verfolgt. Jährlich waren das mehr als doppelt so viele Fälle, wie bei dem berüchtigten §213, der die Verfolgung von »Republikflucht« begründete. Auch in der Gesamtheit der verfolgten Straftaten kam dem §249 eine hohe Stellung zu: mehr als jedes zehnte Delikt wurde auf seiner Grundlage verfolgt, 1989 waren in der DDR ein Viertel der Inhaftierten nach ihm verurteilt. Diese Verteilungen weist auf die Priorität hin, die der Verfolgung von angeblich »Asozialen« durch das Regime der DDR beigemessen wurde.
Die starke »Verrechtlichung« des Umgangs mit den nicht angepassten Lebensweisen der politisch als »Asozial« Diffamierten hatte neben ihrer ordnungspolitischen natürlich auch eine gesellschaftliche Dimension. Die Ausgrenzung „arbeitsscheuer Parasiten», die sich am sozialistischen Gesamtvermögen auf Kosten der Gemeinschaft bereichern wollen, war ein tief verankertes Narrativ in der Bevölkerung der DDR und setzte sich auch über ihren Zerfall hinaus fort. Mehr dazu auch hier.

Nach der sogenannten Wende zog Eckhard Rütz wieder mit seiner Mutter zusammen. Sie ergatterten 1990 eine der begehrten Wohnungen im Neubaugebiet von Greifswald, in der es eine Zentralheizung und warmes fließendes Wasser gab. Von nun an wurde Eckhard Rütz vom Arbeitsamt betreut, dass ihn als »nicht vermittelbar« einstufte. Eine weitere von unzähligen staatlichen, politisch motivierten Zuschreibungen, mit denen er sich Zeit seines Lebens konfrontiert sah.
Eckhard Rütz‘ Mutter starb 1993. Pfarrer Philip Stoepker sagte später in seiner Grabrede, dass der Tod der Mutter der Punkt gewesen sei, an dem »ihm das Leben noch schwerer fiel«. Er bewohnte die Wohnung fortan alleine, hatte oft Freund:innen und Bekannte zu Besuch, mit denen er gemeinsam rauchte, trank, lachte und stritt. Nicht immer blieb es dabei auf Zimmerlautstärke, sodass sich die Beschwerden von Nachbar:innen häuften und die Wohnungsverwaltung Eckhard Rütz 1995 die Wohnung kündigte und ihn 1997 per Räumungsanordnung auf die Straße setzte. Er kam danach in einer Wohngemeinschaft der Diakonie unter und verbrachte dort die nächsten zwei Jahre. In der Zeit verschlechterte sich jedoch sein körperlicher Zustand, weswegen Eckhard Rütz 1999 beschloss, für eine Therapie ins »Haus der Hoffnung«, ein betreutes Wohnheim für Suchtkranke zu ziehen.
Nach acht Monaten brach er die Therapie jedoch ab und schlief ab diesem Zeitpunkt auf der Straße. Meistens lebte er in der Nähe der Mensa in der Greifswalder Innenstadt. Hier kannte Eckhard Rütz sich aus und bekam zudem jeden Tag ein Mittagessen. Die Mensa war einer der wenigen Orte in Greifswald, wo wohnungslose Menschen geduldet wurden. Sie konnten sich drinnen aufwärmen und die Bäder benutzen. Zudem gab es durch die zentrale Lage immer viel Publikumsverkehr und einige Passant:innen hatten etwas Kleingeld übrig. Eine Verkäuferin vom Kiosk vor der Mensa erinnerte sich, dass Eckhard Rütz häufiger bei ihr vorbeigeschaut hat: »Richtig schüchtern war er, wenn er sich ab und an eine Illustrierte gekauft hat. Für seine Schwester.«12000 – Ostsee-Zeitung – Wieder starb ein Obdachloser
Doch wenn die Geschäfte abends schlossen und auch die Mensa nicht mehr zugänglich war, war auch die Innenstadt kein sicherer Ort. Eckhard Rütz geriet oft in Auseinandersetzungen, wegen derer er mehrfach ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Ob es sich dabei bereits um gezielte Angriffe auf ihn gehandelt hat, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren.
Vielleicht waren die Auseinandersetzungen der Grund, wieso Eckhard Rütz immer häufiger in Abrisshäusern Zuflucht suchte und gelegentlich auch im Obdachlosenheim in Eldena übernachtete. Nach dem Mord an Klaus-Dieter Gerecke im Sommer 2000 waren viele Wohnungslose alarmiert und wütend, erinnerte sich auch Ingo Stehr von der Tagesstätte für wohnungslose Menschen in Greifswald. Bekannte von Eckhard Rütz erzählen, dass er fortan immer ein Messer im Stiefel bei sich trug, um sich im Zweifelsfall zur Wehr setzen zu können. Zudem trug der schmächtige Mann die vielen Schichten Klamotten nicht nur wegen der Kälte, sondern auch um breiter zu wirken. Dabei war Eckhard Rütz gar kein streitlustiger Mensch, berichtete einer seiner Mitbewohner im Obdachlosenheim. Er sei zwar ein Einzelgänger gewesen, aber sie kannten sich schon seit ihrer Kindheit und haben sich immer gut verstanden: »Wir sind zusammen ströpen gegangen. Der Eckhard war schüchtern, richtig scheu. Streit gab‘s mit ihm nie.«12000 – Ostsee-Zeitung – „Keiner muss auf der Straße liegen“

Die Tat

Am Abend des 24. November 2000 sitzt Eckhard Rütz wieder dick in Jacken eingepackt vor der Mensa. Es sollte eine kalte Nacht mit Temperaturen nur leicht über dem Gefrierpunkt werden, aber Eckhard Rütz hatte sich trotzdem entschlossen, die Nacht draußen zu verbringen. »Eckhard wollte sich seinen Platz und seine Selbstbestimmung nicht von der Angst nehmen lassen.«

An anderer Stelle in der Stadt treffen sich zwei 16-Jährige und ihr vier Jahre älterer Freund, um gemeinsam Alkohol zu trinken. Gegen 23 Uhr laufen die jungen Männer durch die Innenstadt und treffen vor der Mensa auf Eckhard Rütz. Er war ihnen aus dem Stadtbild als Trinker bekannt. Der ältere sagt zu Eckhard Rütz, dass er sich wegen der Dunkelheit lieber einen anderen Platz suchen soll und fragt ihn, ob er denn nicht von Kläuser gehört hätte. Der junge Mann spielt mit dieser Anmerkung auf Klaus-Dieter Gerecke an, der ebenfalls auf den Straßen Greifswalds lebte und nur fünf Monate zuvor von rechten Jugendlichen totgeschlagen wurde. Eckhard Rütz meint, er hätte natürlich davon gehört, aber werde seinen Platz nicht räumen. Eine Passantin, die das Gespräch mitbekommt, nimmt die Jugendlichen als fürsorglich wahr und erkennt die den Aussagen innewohnende Drohung nicht.
Als die jungen Männer sich entfernen, unterhalten sie sich über die Begegnung mit Eckhard Rütz. Einer der 16-Jährigen äußert dabei den anderen gegenüber, dass »so einer« wie Eckhard Rütz »dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche« liege und dass man ihm »eine Lektion erteilen« müsse. So erzählen sie es später den Ermittler:innen. Alle drei sind sich nun einig, zum Schlafplatz des Mannes zurückzukehren. Sie bewaffnen sich mit Baumstützpfählen und fangen sofort an, damit auf Eckahrd Rütz einzuprügeln. Dabei zielen sie immer wieder auf den Kopf. Als sie sich sicher wähnen, dass ihr Opfer bereits tot ist, wollen sie den Tatort verlassen. Als sie jedoch bemerken, dass Eckhard Rütz sich noch bewegt und Laute von sich gibt, drehen sie um und prügeln erneut auf den wehrlosen Mann ein. Gegen 1 Uhr wird Eckhard Rütz von Passant:innen gefunden. Der herbeigerufene Notarzt kann nur noch den Tod feststellen.

Ermittlungen und Gerichtsprozess

In den folgenden Tagen suchte die Polizei öffentlich nach Zeug:innen der Tat. In einem Fernsehinterview zeigte ein Polizeisprecher den Ausweis von Eckhard Rütz in die Kamera. Außer seinem Alter erfuhren die Zuschauer:innen lediglich folgendes über den Ermordeten: »Er ist als ein solcher bekannt, der stark dem Alkohol hier im Stadtgebiet zugesprochen hat.«12000 – NDR Nordmagazin – Der Tod eines Obdachlosen in Greifswald Obwohl zu diesem Zeitpunkt durch eine erste Obduktion bereits klar war, wie schwerwiegend die Verletzungen von Eckhard Rütz waren, schließt die Polizei »einen sehr unglücklichen Sturz mit den entsprechenden Zufällen« als Todesursache nicht aus. Erst zwei Tage nach der Tat sagte die Staatsanwaltschaft öffentlich, dass die zahlreichen Knochenbrüche im Gesicht nicht allein durch einen Sturz verursacht werden konnten und fortan wegen eines Tötungsdelikt ermittelt werde22000 – dpa – Nach Obdachlosenmord wird weiter nach drei Jugendlichen gesucht.

Für öffentliches Aufsehen sorgte der Mord an Eckhard Rütz erst wieder, als mit der Festnahme der drei Täter mehr über mögliche Hintergrunde bekannt wurde. Zwei 16- und ein 21-Jähriger wurden drei Wochen nach der Tat nach Hinweisen aus der Bevölkerung verhaftet und in Untersuchungshaft verbracht. Alle drei waren Mitglieder der rechten Szene. Einer der beiden Jüngeren verkehrte seit seinem elften Lebensjahr in rechten Strukturen, trug neonazistische Tätowierungen am Körper und hortete in seinem Kinderzimmer eine Vielzahl von Nazidevotionalien. Er war kurzzeitig Mitglied der NPD, die ihn jedoch wegen eines gewalttätigen Übergriffs hinauswarf. Mit dem gleichaltrigen Mittätern war er gut befreundet. Sie teilten ihre Begeisterung für extrem rechte Musik. Auch der zweite 16-Jährige war einschlägig tätowiert, trug unter anderem eine SS-Rune auf der Hand. Im Gegensatz zu seinen beiden Mittäter wurde der älteste der Gruppe eher als Mitläufer charakterisiert. Der zur Tat 20-Jährige hatte stets Probleme, gleichaltrige Freunde zu finden und erhoffte sich bei jüngeren Personen innerhalb der rechten Szene Respekt. Er beteiligte sich in der Vergangenheit an einem neonazistischen Übergriff auf einen 13-Jährigen, wurde aber auch selbst in der Vergangenheit Ziel von Gewalt eines »Kameraden«.

Der Prozess gegen die drei Neonazis begann im Mai 2001 am Landgericht Stralsund. Da in Stralsund auch die Morde an Klaus-Dieter Gerecke und Norbert Plath verhandelt wurden, war es bereits der dritte Prozess gegen junge Neonazis, die brutal Menschen tot schlugen, innerhalb weniger Monate am Landgericht der Hansestadt. Staatsanwalt Ralf Lechte sprach bereits von einem Gewöhnungseffekt und zeigte auch gegenüber der Öffentlichkeit die deutlichen Parallelen der Taten auf.
Bereits zu Beginn des Prozesses gestand einer der 16-Jährigen, dass er Eckhard Rütz «nur eine Lektion erteilen” wollte – und nachdem alle drei Täter anfangs noch eine Tötungsabsicht bestritten hatten, ließen sich die beiden 16-Jährigen im Verlauf der Verhandlung schließlich doch ein und gaben zu: »Ja, wir wollten ihn töten.« Entgegen der Kriminalpolizeiinspektion, die sich während der Ermittlungen gegen die Benennung eines rechten Motivs aussprach, ordnete der Richter Wolfgang Loose die Tat umso eindeutiger ein: Die Täter hätten »aus niederen Beweggründen« gehandelt, da sie Eckhard Rütz »aus Verachtung für seine Lebensweise als Obdachloser« töteten. Das Motiv sei »nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert und auf tiefster Stufe stehend«. Die Tathandlungen gleichen einer Hinrichtung und seien »an Brutalität nicht zu überbieten«. Ferner führte Loose aus: »Die Angeklagten haben sich damit aus Intoleranz und entsprechend ihrer vom nationalsozialistischen Gedankengut geprägter Gesinnung zum Herr über Leben und Tod aufgespielt.« Durch diese klare Benennung der politischen Tatmotivation ist Eckhard Rütz als Todesopfer rechter Gewalt staatlich anerkannt.
Trotz der klaren Worte und der eindeutigen Einordnung blieb das Gericht im Strafmaß unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung der Angeklagten. Er wolle auf diesem Weg das Geständnis der Angeklagten honorieren, so Loose. Die beiden 16-jährigen Haupttäter wurden im Juni 2001 nach Jugendstrafrecht wegen gemeinschaftlichen Mordes zu siebeneinhalb bzw. sieben Jahren Haft verurteilt. Der 21-Jährige bekam wegen Beihilfe zum Mord und anderer kleinerer Delikte eine Gesamtstrafe von zehn Jahren.

Reaktionen – »Schon vergessen…?«

Bekannte und Freund:innen waren von der Nachricht des gewaltsamen Todes Eckhard Rütz‘ geschockt und traurig. Besonders Menschen ohne festen Wohnsitz in Greifswald versetzte die Tat in Furcht. Eckhard Rütz war nach Klaus-Dieter Gerecke der zweite Wohnungslose, der im Jahr 2000 in der Stadt totgeschlagen wurde. Dazu kamen die ungeklärten Todesumstände von Gereckes Bruder Rainer sowie die Morde an Jürgen Seifert in Wismar und Norbert Plath in Ahlbeck nur wenige Monate zuvor. »Es trifft immer die Schwächsten“, sagte ein Bewohner der Obdachlosenunterkunft, als die Ostseezeitung ihn wenige Tage nach der Tat in der Unterkunft in Eldena besuchte. Ein anderer berichtet von der Gewalt, als wäre es normal: »Ich stand auch schon vor der Mensa. Da kamen ein paar Jugendliche, wollten Feuer. Hatte ich nicht. Da haben sie mir auf die Schnauze geschlagen.« Auch in der Tageswohnung der Diakonie herrschte nach der Nachricht große Betroffenheit. Viele hier kannten Eckhard Rütz und fragten in einem Beitrag einer Zeitung der evangelischen Kirche: »Was ist das für eine Stadt, in der sich ein Mensch abends oder nachts nicht gefahrlos durch die Straßen laufen kann?« Ein Bewohner der Tageswohnung äußerte sich gegenüber der Ostseezeitung ähnlich: »Abends in die Innenstadt? Nee, das ist zu gefährlich.«22000 – Ostsee-Zeitung – Keiner glaubt an einen Unfall Michael Krüger, Leiter der Unterkunft in Eldena, appellierte: »Ich rate jedem in den späten Abendstunden in eine Einrichtung zu kommen, zu übernachten, sich nicht alleine auf die Straße zu begeben.«
In der öffentlichen Berichterstattung zum Fall wurde die Entscheidung Eckhard Rütz’, sich an diesem Abend nicht in die Unterkunft zu begeben, so häufig kommentiert, dass der Eindruck entstand, er wäre mitverantwortlich gewesen, dass die Täter ihn als Ziel auswählten. Die Mitarbeiterin einer Sozialhilfeeinrichtung wurde zitiert: »Nein, das mit Eckhard Rütz hätte wirklich nicht passieren müssen. Doch anbinden könne und wolle man keinen.« Die Selbstbestimmungsrechte von Eckhard Rütz spielten in der öffentlichen Debatte um den Fall quasi keine Rolle. Er sei ein Opfer seines Lebensstils geworden, wurde als irrational und unvernünftig dargestellt. Dass es für einen alkoholabhängigen Einzelgänger wie Eckhard Rütz gute Gründe gab, sich einen Schlafplatz außerhalb der Unterkunft zu suchen, wurde nirgends erwähnt. Das Alkoholverbot im Heim, Probleme mit anderen Bewohner:innen, mangelnde Privatsphäre und Selbstbestimmung sind für viele Menschen ohne festen Wohnsitz Gründe für die Entscheidung gegen Sammelunterkünfte. Eine Entscheidung, die Eckhard Rütz sich nicht nehmen lassen wollte. »Ick halt dat durch, Leben auf der Straße«, soll er zu jenen gesagt haben, die ihm das Gegenteil einreden wollten. Die Gefahren waren ihm durch mehrere Auseinandersetzungen und Angriffe bewusst. Er passte sich ihnen an, indem er sich besser zu schützen versuchte und sich bewaffnete. Die Entscheidung, sein Leben so zu gestalten, wie er es für sich am Besten befand, wurde ihm von der Öffentlichkeit oft mit paternalistischem Unterton abgesprochen. In fast allen Artikeln zu seinem Tod wird Eckhard Rütz – sofern sein Name überhaupt genannt wird – zuerst als Obdachloser beschrieben, obwohl er nur einen kleinen Teil seines Lebens auf der Straße verbrachte. Die öffentliche Stigmatisierung, die Eckhard Rütz so schon zu seinen Lebzeiten erfuhr, setzte sich nach seinem Tod fort.
Die Reaktion der Greifswalder Zivilgesellschaft war geprägt von Entsetzen, Hilflosigkeit und Resignation. Zwar wurde die Tat von allen Seiten verurteilt und in den Kontext einer zunehmend eskalierenden Jugendgewalt gestellt, jedoch scheuen sich viele Akteur:innen wie schon beim Mord an Klaus-Dieter Gerecke trotz der offensichtlichen sozialdarwinistischen Komponente die Tat als politisch rechts motiviert zu verurteilen. In der Berichterstattung wurde zwar stets auf die vorherigen Morde an wohnungslosen Menschen im Bundesland hingewiesen, ohne sie jedoch als Folge einer rechten, sozialdarwinistischen und wohnungslosenfeindlichen Ideologie einzuordnen. Aus der Lokalpolitik kam es im Rahmen einer Gedenkminute in der Greifswalder Bürgerschaft bei der »diese Tat gegen einen vermeintlich Schwachen unserer Gesellschaft auf Schärfste verurteilt« wurde auch zu der Forderung, »Versuche zu unterlassen, aus dem Gewaltakt politisches Kapital zu schlagen«.
Das Greifswalder »Bündnis gegen Rechts« mahnte schon nach dem Tod von Klaus-Dieter Gerecke an, dass »der Mord an Klaus zum gesellschaftlichen Umfeld in Mecklenburg-Vorpommern, wo rechtsextreme Gesinnungen verbreitet werden können und rassistische Übergriffe an der Tagesordnung sind, in Bezug gesetzt werden muss«. Doch dies blieb im Nachgang der Tat aus. Schnell waren sich Öffentlichkeit und Entscheidungsträger:innen über das Narrativ einig. Durch die unwidersprochene Restigmatisierung von Wohnungslosen und die stummmachende Entpolitisierung übernahm niemand die Verantwortung oder Initiative für eine tiefergehende Auseinandersetzung. Bei der Beerdigung von Eckhard Rütz am 19. Dezember 2000 mahnte Pfarrer Phillip Stoepker ebendies an. Erst zwei Tage vor dem Mord hatte er eine Gedenkplatte für Klaus-Dieter Gerecke eingeweiht. Nun muss er erneut eine Grabrede halten. Er fragte im Kreis von Eckhard Rütz‘ Verwandten und Bekannten: »Vor einem halben Jahr hat der Tod eines Obdachlosen noch die Stadt bewegt. Diesmal haben sich kaum Menschen gekümmert. Was hat der Stein in Neuenkirchen gebracht? […] Sind wir so weit in unserer Gesellschaft, in unserer Stadt, dass es Menschen gibt, die weit weg sind von allem Menschlichen? Und hat die Gesellschaft, die Stadt, sich damit abgefunden?«22000 – Ostsee-Zeitung – Getöteter Obdachloser gestern beigesetzt Der erwartete Aufschrei blieb jedenfalls aus. Die Stadtgesellschaft, die noch wenige Monate zuvor nach dem Mord an Klaus-Dieter Gerecke eine in ihrer Geschlossenheit und Vielfältigkeit beeindruckende Reaktion gezeigt hatte, schwieg. Die Gedenkinitiative Schon vergessen? ordnete das Schweigen in ihrem Gründungsstatement wie folgt ein:

»Hatte Klaus Gereckes gewaltsamer Tod am 24. Juni 2000 noch die ganze Stadt in Aufruhr versetzt, geriet der Mord an Eckhard Rütz schnell in Vergessenheit. Kein offizielles Begräbnis, keine Gedenkkundgebung, kein Gedenkstein… Man schien von vornherein, wohl auch im Hinblick auf das schon angekratzte Image, kein großes Interesse an einer nachhaltigen Aufarbeitung der Morde zu haben.«

Gedenk-Initiative »Schon vergessen?«

Nach der Verurteilung der Täter erinnerte weder in der Stadt noch in der Öffentlichkeit irgendetwas an den Mord an Eckhard Rütz. Wenige Jahre später war er so gut wie vergessen, bis antifaschistische Jugendliche im Jahr 2005 ein Gedenken anstießen. Sie gründeten die Initiaitve „Schon vergessen?“ und kritisierten schon mit dem Namen die fehlende Auseinandersetzung mit der Tat. Während bei den Gedenkveranstaltungen anfangs nur wenige Menschen vor einem selbstgezimmerten Holzkreuz standen, schaffte es die Initiative durch eine Kampagne innerhalb weniger Jahre Geld für einen Gedenkstein zu sammeln, der am 25. November 2007 eingeweiht wurde und eine regelmäßige Gedenkveranstaltung zu etablieren.
An dem Gedenken beteiligten sich neben der initiierenden Antifa Greifswald, die junge Gemeinde der St. Nikolai Kirche, das Kultur- und Wohnprojekt Ikuwo, die Linkspartei und ihre Jugendorganisation solid, der Studierendenclub Kiste, die Band Feine Sahne Fischfilet sowie zahlreiche engagierte Einzelpersonen. Eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung der gemeinsamen Arbeit im Gedenkbündnis findet sich hier.
Neben bürokratischen Hürden, mit denen sich die Initiative konfrontiert sah, sorgte vor allem die Inschrift des Gedenksteins für Diskussionen zwischen der Stadtverwaltung und Vertreter:innen des Bündnisses. Während es für letztere außer Frage stand, die Täter als eindeutig neonazistisch zu kennzeichnen, wollten die Stadtvertreter:innen die rechte Ideologie der Täter unerwähnt lassen. Schließlich wurde sich auf die Inschrift »Zum Gedenken an Eckhard Rütz – am 25.11.2000 von drei Jugendlichen mit rechtsextremistischer Gesinnung ermordet« geeinigt.
Über die Jahre hat sich das Gedenken an Eckhard Rütz in Greifswald an seinem Todestag als fester Termin etabliert. An den Gedenkveranstaltung nehmen stets um die hundert Menschen teil. Rund um den Todestag macht die Gedenkinitiative auch mit Redebeiträgen, Ausstellungen und Vorträgen auf die Themen Obdachlosenfeindlichkeit und Sozialdarwinismus aufmerksam.
Ihrer kontinuierlichen Arbeit ist es zu verdanken, dass Eckhard Rütz bis heute nicht vergessen ist.

Gedenken
Die Initiative „Schon vergessen?“ erinnert in Greifswald seit 2006 an die Opfer rechter Gewalt in der Hansestadt und hat im Jahr 2007 einen Gedenkstein für Eckhard Rütz durchgesetzt. Mehr hier
Quellen
  • 2000 – Ostsee-Zeitung – Keiner glaubt an einen Unfall
  • 2000 – Ostsee-Zeitung – Obdachloser wurde brutal erschlagen
  • 2000 – Ostsee-Zeitung – Odachloser starb offenbar durch Gewalt
  • 2000 – Ostsee-Zeitung – „Keiner muss auf der Straße liegen“
  • 2000 – Ostsee-Zeitung – Wieder starb ein Obdachloser
  • 2000 – dpa – Nach Obdachlosenmord wird weiter nach drei Jugendlichen gesucht
  • 2000 – dpa – Keine heiße Spur nach Obdachlosenmord – weiter Zeugen befragt
  • 2000 – Ostsee-Zeitung – Stadt äußert sich zum Tod von Eckhard Rütz
  • 2000 – Greifswalder Gemeindebrief – „Wer dem Geringen Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer“
  • 2000 – Ostsee-Zeitung – Getöteter Obdachloser gestern beigesetzt
  • 2001 – Tagesspiegel – Angeklagter gesteht Mord an Obdachlosem
  • 2001 – Neues Deutschland – Zwei Angeklagte gestehen Mordlust
  • 2001 – Ostsee-Zeitung – 16-Jähriger gesteht Mord: „Ja, wir wollten ihn töten“
  • 2001 – Ostsee-Zeitung – Brutale Schläge zertrümmerten Schädel des Opfers
  • 2001 – Schweriner Volkszeitung – Plädoyers im Stralsunder Mordprozess
  • 2001 – Schweriner Volkszeitung – Jugendliche Schläger wegen Mordes verurteilt.
  • 2007 – Ostsee-Zeitung – Genug Geld für Rütz-Gedenkstein
  • 2007 – Neues Deutschland – Denkmal eines blutigen Sommers
template-parts/carousell.php
Oussame
Daniba

verschwunden am:
14.09.2014

Angriffsort:
Stralsund

weiterlesen ...
Karl-Heinz
Lieckfeldt

gestorben am:
30.09.2012

Angriffsort:
Butzow

weiterlesen ...
Mehmet
Turgut

gestorben am:
25.02.2004

Angriffsort:
Rostock

weiterlesen ...
Wolfgang
Hühr

gestorben am:
07.12.2002

Angriffsort:
Freienlande

weiterlesen ...
Klaus Dieter
Lehmann

gestorben am:
15.05.2002

Angriffsort:
Neubrandenburg

weiterlesen ...
Mohamed
Belhadj

gestorben am:
22.04.2001

Angriffsort:
Zarrenthin

weiterlesen ...
Fred
Blank

gestorben am:
25.03.2001

Angriffsort:
Grimmen

weiterlesen ...
Eckard
Rütz

gestorben am:
25.11.2000

Angriffsort:
Greifswald

weiterlesen ...
Toni
Beustier

gestorben am:
19.08.2000

Angriffsort:
Neubrandenburg

weiterlesen ...
Gundula Jana
Klein

verschwunden am:
15.08.2000

Angriffsort:
Greifswald

weiterlesen ...
Norbert
Plath

gestorben am:
24.07.2000

Angriffsort:
Ahlbeck

weiterlesen ...
Jürgen
Seifert

gestorben am:
09.07.2000

Angriffsort:
Wismar

weiterlesen ...
Klaus-Dieter
Gerecke

gestorben am:
24.06.2000

Angriffsort:
Greifswald

weiterlesen ...
Rainer
Gerecke

gestorben am:
01.04.2000

Angriffsort:
Güstrow

weiterlesen ...
Horst
Meyer

gestorben am:
17.09.1997

Angriffsort:
Anklam

weiterlesen ...
Horst
Genz

gestorben am:
22.04.1997

Angriffsort:
Sassnitz

weiterlesen ...
Horst
Diedrich

angegriffen am:
22.12.1996

Angriffsort:
Greifswald

weiterlesen ...
Olaf
Jeschke

gestorben am:
28.11.1996

Angriffsort:
Usedom

weiterlesen ...
André
Teranski

verschwunden am:
07.09.1996

Angriffsort:
Parchim

weiterlesen ...
Boris
Morawetz

gestorben am:
13.07.1996

Angriffsort:
Wolgast

weiterlesen ...
Eudache
Calderar

gestorben am:
29.06.1992

Angriffsort:
Nadrensee

weiterlesen ...
Grigore
Velcu

gestorben am:
29.06.1992

Angriffsort:
Nadrensee

weiterlesen ...
Dragomir
Christinel

gestorben am:
14.03.1992

Angriffsort:
Saal

weiterlesen ...
footer.php