Klaus-Dieter Gerecke
gestorben am 24.06.2000
in Greifswald
Klaus-Dieter Gerecke wurde am 23. Juni 2000 von drei Greifswalder Jugendlichen zu Tode getreten. Ihr Motiv war Sozialdarwinismus: Sie verachteten ihn aufgrund seiner Wohnungslosigkeit. Er wurde 47 Jahre alt.
Übersicht
Als »Kläuser« kannten viele Menschen in Greifswald Klaus-Dieter Gerecke – fast jede:r kannte ihn vom Sehen, da er größtenteils auf der Straße lebte. Er war immer unterwegs: Seinen Stoffbeutel über die Schulter geschwungen, beobachtete er das Treiben in der Innenstadt, unterhielt sich gerne mit Passant:innen und kommentierte das politische Geschehen. Oft konnte man ihn zusammen mit seinem älteren Bruder Rainer treffen, wenn sie zusammen durch die Stadt schlenderten. Auf den wenigen Privatfotos, die von ihm zu finden sind, sind die beiden stets zusammen abgebildet.
KINDHEIT IM BRINKHOF
Geboren wurde Klaus-Dieter Gerecke am 11. Juli 1952 in Greifswald. Seine Mutter, die als Reinigungskraft arbeitete, zog ihre beiden Söhne Klaus und Rainer alleine auf. Der Vater war Kraftfahrer beim Altstoffhandel. Sie wohnten im »Brinkhof«, einem Quartier in der Greifswalder Altstadt, in dem die Mieten günstig und die Wohnverhältnisse schlecht waren.
Wie viele Kinder aus dem Brinkhof besuchte Klaus-Dieter Gerecke eine Sonderschule bis zur achten Klasse und arbeitete anschließend in einem Schlachthof des VEB (Volkseigenen Betriebs) Schweinemast, ehe er mit 18 Jahren zur Müllabfuhr wechselte. Dort ging er jedoch bald nicht mehr hin, da ihm – wie ein Bericht der Abteilung Inneres der Stadt vermerkt – die Arbeit nicht gefiel. Ferner ist vermerkt: »Er bummelte im Stadtgebiet umher. Ließ sich überwiegend von seiner Mutter und seiner Großmutter mitverpflegen [und] nahm Gelegenheitsarbeiten an.« Aus diesem Grund wurde Klaus-Dieter Gerecke im September 1973 von der Polizei aufgegriffen und wegen §249 »Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten« in Untersuchungshaft genommen. Den beiden Bekannten, mit denen zusammen Klaus-Dieter Gerecke verurteilt wurde, warf man vor, auf Zeltplätzen »umherzubummeln«. »Ein parasitäres Leben auf Kosten der Gesellschaft kann nicht geduldet werden«, vermerkte der Richter im Urteil. Die drei 19-Jährigen wurden zu sogenannter Arbeitserziehung verurteilt. Dies bedeutete die Einweisung in ein Arbeitshaus, das von der DDR-Führung seit den 1950er Jahren beschönigend »Heim für soziale Betreuung« genannt wurde. Die Inhaftierten mussten dort meist harte körperliche Arbeit verrichten, waren unter teils sehr schlechten hygienischen Bedingungen in einfachsten Barackenanlagen untergebracht und militärischem Drill ausgeliefert.
Klaus-Dieter Gereckes Verurteilung 1973 fällt in das Jahr, in dem die DDR den Spitzenwert von 14.000 Schuldsprüchen aufgrund des §249 erreichte.
Im März 1975 wurde Klaus-Dieter Gerecke frühzeitig aus dem Arbeitshaus entlassen und bekam eine kleine Wohnung in Eldena, weit außerhalb des Stadtkerns von Greifswald, zugewiesen, um nicht dem nach Ansicht der Behörden »schlechten Einfluss« seiner alkoholabhängigen Mutter ausgesetzt zu sein. Er gab die Wohnung allerdings zurück, weil er weiterhin bei seiner Mutter in der Altstadt wohnen wollte.
Beruflich sollte er wieder bei der Müllabfuhr anfangen. Doch nach einiger Zeit bleibt er der Arbeit wieder fern. Als er angetrunken beim Schrottsammeln in der Stadt getroffen wurde, wurde die Bewährung aufgehoben. Ein Verantwortlicher der Müllabfuhr schätzte ein, »dass der Kollege Gerecke sehr abfällige Bemerkungen zu den Maßnahmen und gesetzlichen Bestimmungen äußerte«. Erneut wurde er inhaftiert, um seine Arbeitshausstrafe in Greifswald zu Ende abzusitzen.
Ein ehemaliger Zellengenosse berichtet:
»Ich hab mit Klaus Gerecke vier Monate die Zelle geteilt in der U-Haft in Greifswald, Mitte der Siebziger. 249, das haben sie immer gerne rangezogen. Also du brauchtest gar nichts gemacht haben. Asozial! Fertig. Er war auch wegen ‚Assi‘ drin. Er hatte ja kein festes Arbeitsverhältnis, er hat da mal gemacht und da mal gemacht […] Der konnte ja arbeiten. Aber den wollten sie gar nicht haben nirgendswo. Mit dem wollt sich keiner abgeben.«
An die gemeinsame Zeit in der Zelle erinnert er sich: «Ich hab ihn machen lassen, er hat von alleine nicht erzählt, ich musste ja nachfragen. […] Im Knast musstest du ja was zum Tauschen haben – das hatte er ja alles nicht. Er hat da drin gesessen und hat seine Zeit abgesessen regelrecht. Und hat die Stecker gemacht.« [Inhaftierte mussten Schuko-Stecker zusammenschrauben.]
Nach der Haftentlassung arbeitete Klaus-Dieter Gerecke als Leiharbeiter im VEB Getreidewirtschaft und kurz bei der Reichsbahn. Als Arbeitskollegen ihn eines Morgens in der Innenstadt mit vier Bierflaschen im Arm trafen, fuhren sie ihn zum Betrieb und forderten ihn zur Arbeit auf. Als er kurz »unbeaufsichtigt« war, machte er sich aus dem Staub. In einem Bericht wird vermerkt: »G. [hat] nach seinen Ausführungen keine Lust zur Arbeit.«
Schließlich stellte ihn die Müllabfuhr wieder ein. Im Einstellungsgespräch versprach Klaus-Dieter Gerecke laut einem Vermerk, ein neues Leben beginnen zu wollen. Dennoch wurde er kurze Zeit später wegen »Verletzung der sozialistischen Arbeitsdisziplin« entlassen. In einer Aussprache mit seinen Vorgesetzten »vertrat [er] die Meinung, er mache dem Betrieb nur Sorgen«.
»DER BETRIEB KANN MICH AM ARSCH«
Mittlerweile wohnte Klaus-Dieter Gerecke wieder zusammen mit seiner Mutter in der Langen Straße 25. Die alten Innenstadthäuser wurden in der DDR nicht saniert und die Wohnverhältnisse waren schlecht und beengt: Zwei Familien mussten sich eine Toilette teilen, es gab keinen Keller, um die Kohlen zu lagern, und eine Kochmöglichkeit hatte Klaus-Dieter Gerecke in seinem Zimmer auch nicht. Von den Nachbar:innen gab es öfter Beschwerden bei der Stadt, weil angeblich betrunkene Männer und Frauen in der Wohnung ein- und ausgingen und viel Lärm verursachten.
Lange Jahre hatte Klaus-Dieter Gerecke in den 1970er Jahren eine Freundin. Zeitweise wohnte er auch bei ihr und ihrem Stiefvater. Dieser wurde jedoch in der Beziehung zu seiner Tochter immer wieder gewalttätig, wodurch das Zusammenleben des Paares sehr belastet war. Ein Bekannter berichtet über diese Zeit:
»Der einzige Rückzugsort, den er dort hatte, wurde ihm so mit Gewalttätigkeiten wieder kaputt gemacht. Seine Freundin mag auf den Schutz von Klaus gehofft haben, aber er war eben nicht der Schutz. Er brauchte ja selber Schutz. Wenn du ihn angestoßen hättest, dann wär er umgefallen. Die beiden waren emotional und finanziell abhängig von dem Stiefvater, der hat das für sich ausgenutzt. Klaus wäre sonst auf der Straße gelandet. Das war eine Kette von Abhängigkeiten und der Schwächste, der leidet am meisten bei sowas. Klaus war jemand, der Streit vermieden hat.«
Aufgrund einer Verurteilung wegen Diebstahls musste Klaus 1977 erneut ein halbes Jahr ins Gefängnis. Nach Abgelten der Strafe sollte er zurück in seine alte, kaputte, unbeheizte Wohnung in der Langen Straße. Noch aus der Haft schrieb er einen Brief mit der Bitte um eine bessere Wohnung: »Da ich die Absicht habe, auch mal zu heiraten, möchte ich Sie um eine bessere und größere Wohnung bitten.«
Da seinem Wunsch nicht entsprochen wurde, zog er wieder zu seiner Mutter, die mittlerweile in Oldenhagen unweit von Greifswald wohnte. Nach mehreren erfolglosen Versuchen bei Arbeitsstellen landete Klaus-Dieter Gerecke 1978 in einem Textilbetrieb. Nach drei Tagen ließ er sich krankschreiben und teilte dem Betrieb selbstbewusst mit, dass er nicht mehr zur Arbeit kommen werde: »Der Betrieb kann mich am Arsch!«
»EINE DISZIPLINIERUNG DES BÜRGERS GERECKE IST NICHT MÖGLICH«
Die folgenden zwölf Jahre musste Klaus-Dieter Gerecke – von kurzen Zeiten der Freiheit unterbrochen – im Gefängnis verbringen. Wegen Diebstahls und »asozialem Verhalten« wurde er immer wieder verurteilt und durch die Anhäufung der Schuldsprüche wurden auch die Strafen härter. Eine Verurteilung zu über zwei Jahren Haft wegen §249 und gemeinschaftlichen Diebstahls brachte Klaus-Dieter Gerecke 1978 in die gefürchtete Haftanstalt in Bützow. In der DDR war die Anstalt als eines der »drei großen B« (Bützow, Bautzen, Brandenburg) bekannt für die harte Behandlung von Gefangenen und Regimegegner:innen.
Jörg Raddatz vom Kreisdiakonischen Werk, der Klaus-Dieter Gerecke nach der Wende bereute, sagte: »Er hat auch ein paar Jahre in Bützow im Knast gesessen und da haben sie ihn plattgemacht. Er war einfach klein, schmächtig und physisch nicht in der Lage dagegenzuhalten.«
Auch ein ehemaliger Mitgefangener erinnert sich: »Das waren dann die Erlebnisse, die er da unter den gewalttätigen Schwerverbrechern hatte. Der lebt da Tag für Tag in Angst. Sone Leute machen sie zum Lakaien da.«
Nach einem halben Jahr in Bützow schrieb Klaus-Dieter Gerecke 1983 einen Brief an den Greifswalder Bürgermeister: »Ich möchte dringend die Bitte aussprechen, mir endlich eine Möglichkeit zu geben und auch den Betrieb zu wechseln. In der Hoffnung, dass Sie als Bürgermeister einen Weg finden, der mich wirklich frei macht, hoffe ich ganz dringend auf Ihr Schreiben.« Eine Antwort wurde ihm mit dem Hinweis auf seine abzusitzende Haftstrafe verweigert.
Während eines weiteren Gefängnisaufenthaltes sagte Klaus-Dieter Gerecke 1986 im Rahmen einer Umfrage unter den Gefangenen zum Grund seiner Haft, dass »es in erster Linie an der mangelnden Wiedereingliederung gelegen habe und er deshalb stehlen gehen musste, weil er Hunger hatte.« Er sei froh, wieder in der Haftanstalt zu sein und empfinde die Haft nicht als Strafe. Klaus-Dieter Gerecke gab auch an, dass er vorhabe, einen Ausreiseantrag zu stellen. Sollte dieser nicht erfolgreich sein, würde er sich für seine Wiedereingliederung eine Arbeitsstelle auf dem Land und nicht in Greifswald wünschen. Er befürchte, bei einer Eingliederung in die Müllabfuhr durch den Umgang mit Straftätern selbst wieder rückfällig zu werden.
Nach seiner Entlassung 1987 wurde Klaus-Dieter Gerecke dennoch gegen seinen ausdrücklichen Wunsch wieder zur Müllabfuhr in Greifswald versetzt. Kurze Zeit später wurde er wieder inhaftiert.
Im Jahr 1987 profitierte er von einer Generalamnestie zum 38. Jahrestag der DDR und kam dadurch ein paar Monate früher aus der Haft. Er teilte der Abteilung Inneres seinen Wunsch mit, fortan keine Arbeit mehr zugewiesen zu bekommen, und, dass er auch jegliche andere Hilfe, wie beispielsweise Wohnraumvermittlung, ablehne. Eine Weile wohnte er bei seinem Bruder Rainer, mit dem er auch während seiner Gefängnisaufenthalte immer Kontakt gehalten hatte. Schließlich bekam er ein festes Zimmer im betreuten Wohnheim »Martinsstift« in der Steinstraße. Die Hausmutter vermerkte über ihn: »Herr Gerecke informiert uns wie üblich über den aktuellen Stand der Politik in der Sowjetunion und der DDR. Für seine Schulbildung ist er sehr interessiert am Tagesgeschehen.«
Doch auch mit dem Aufenthalt in der Wohneinrichtung kam keine Ruhe in sein Leben. Wegen seines Alkoholkonsums, der fehlenden Anpassungsbereitschaft an die Abläufe im Haus und der Zerstörung von Einrichtungsgegenständen bat die Heimleitung um seine Einweisung in eine Psychiatrie. Dazu kam es jedoch nicht. Stattdessen musste Klaus-Dieter Gerecke im Juli 1989 wegen Diebstahls erneut eine Gefängnisstrafe antreten. Diesmal verhalf ihm der Zusammenbruch der DDR zu einer früheren Haftentlassung. Seine hart errungene Adelung verlieh ihm der untergehende Staat schließlich am 20. März 1990: »Eine Disziplinierung des Bürgers Gerecke mit den Mitteln des WEG ist nicht möglich. Die gesellschaftliche Betreuung wird beendet.«
Leben auf der Straße
Nach seiner Entlassung in der Wendezeit gab es von staatlicher Seite nun keine Wohnung mehr für Klaus-Dieter Gerecke, nur für ein paar Tage ein Bett im Arbeiterwohnheim. Sein alter Betrieb, die Müllabfuhr, wollte ihn nicht mehr beschäftigen. Er verdiente sich sein Geld mit Pfandsammeln. Später erhielt er Sozialhilfe und ab 1994 Erwerbsunfähigkeitsrente.
Oft besuchte er die »Teestube«, eine Tagesstätte für Wohnungslose der Diakonie in der Wollweberstraße.
Jörg Raddatz, der die »Teestube« ins Leben rief und Klaus-Dieter Gerecke dort über Jahre eng betreute, erinnert sich: »Der ist ja überall rausgeflogen. […] Niemand wollte ihn groß haben, dann waren wir – also ich weiß nicht, nach wie vielen Jahren – wahrscheinlich die Ersten, die gesagt haben: Komm mit rein, mach mit – oder wenn du Kohlen holst oder den Ofen heizt – sone Sachen. Aber bis dahin war eben schon ne Menge kaputt.«
Über die Jahre gehörte Klaus-Dieter Gerecke nahezu zum Stadtbild Greifswalds. Oft traf man ihn in der Nähe der Mensa in der Innenstadt, wo er Leute ins Gespräch über Politik und Fußball – seine Lieblingsthemen – verwickelte, Passant:innen nach Zigaretten fragte oder den Studierenden des Mensaclubs, einem Student:innenclub, der Veranstaltungen und Partys organisiert, half, wenn es mal was anzupacken gab. Ein Bekannter erinnert sich an die Zeit: »Ihm ging das den Umständen entsprechend gut. Er hatte seine Beutel mit Leergut gesammelt. Da wirst du nicht reich von, aber hast dein Auskommen gehabt. […] Die Leute [wie Klaus-Dieter Gerecke], die sind auch nicht 100 Prozent Pessimisten gewesen oder mutlos oder was. Wenn man dem begegnet ist und er hatte sein Wägelchen und am Lenker waren zwei Beutel voller Flaschen, dann hat er sich gefreut. Das war für ihn ein Erfolgserlebnis auch gewesen. Er konnte schon Emotionen zeigen. Wenn er ne Gelegenheit hatte, dann hat er die genutzt. Aber er hatte nicht so viele Gelegenheiten. Die hat man ihm einfach nicht gegeben, die Gelegenheiten.«
Doch nicht nur durch das Sammeln von Pfandflaschen besserte Klaus-Dieter Gerecke sein Einkommen auf. Manchmal ging er auch ganz direkt auf die Menschen zu, erzählt ein Bekannter: »Er wusste ganz genau, hier hinten ist das etwas reichere Viertel. Wo man niemandem was tut, wo Professoren wohnen. Und da ging er auch gern Tür an Tür, wo er Leute kannte, da hat er geklingelt und dann hat er ganz nett und fröhlich mal um Geld gebeten. Und darüber war er auch stadtbekannt.« Auch Jörg Raddatz erinnert sich: »Er hat manchmal dann Geschichten erzählt, wo du wusstest – okay…?! – aber die stellenweise eben auch so gut erzählt, dass du sagst: Okay, für ‘ne gute Geschichte hast du dir fünf Mark verdient.« Doch nicht immer hatte Klaus-Dieter Gerecke auch was von dem verdienten Geld, so Raddatz weiter: »Das größte Problem war, wenn er denn Geld hatte, waren immer welche da, die größer und stärker waren. Auf der anderen Seite: Er ist nie jemandem irgendwie böse gewesen.«2Interview 8/2021
Zu dieser Zeit schlief Klaus-Dieter Gerecke schon beinahe ausschließlich auf der Straße. Während er die ersten Winter noch teilweise im Obdachlosenheim oder bei seinem Bruder Rainer verbrachte, fand er mit der Zeit für sich Mittel und Wege, auch kalte Nächte draußen zu überstehen. Cordula Wulff von der Diakonie sagt: »Klaus war auch einer von denen, die auch bei 15, 20 Grad minus draußen schlafen konnten. Und du warst dir relativ sicher, dass er am nächsten Morgen trotzdem auf der Matte stand. Bei vielen anderen musstest du dann schon Angst haben. […] Der brauchte seine Freiheit, der musste draußen sein, brauchte zwischendurch mal nen Ofen, an den er sich anlehnen konnte, bisschen auftanken konnte, das war dann so diese Tagesstätte. Und die Tagesstätte war letztendlich für ihn dann sowas wie ein Zuhause.«
KLAUS UND RAINER
Klaus-Dieter Gerecke und sein Bruder Rainer standen sich sehr nah. Sie waren oft zusammen zu sehen, unternahmen mit der Diakonie gemeinsame Ausflüge und wohnten teilweise zusammen. Rainer Gerecke hatte eine Wohnung in der Gützkower Landstraße – »Klein Chicago« wurde das große Mietshaus kurz vorm Ortsausgang genannt. Als nach der Wende die Mieten überall enorm stiegen, wurden die günstigen und schlecht ausgestatteten Wohnungen vor allem Asylsuchenden, Sozialhilfeempfänger:innen und Wohnungslosen zugewiesen.
Der gewaltsame Tod seines Bruders am 1. April 2000 war ein schwerer Schicksalsschlag für Klaus-Dieter Gerecke: In der Stralsunder Straße wurde Rainer Gerecke von mehreren Jugendlichen in ein Auto gezogen oder stieg unter Vorspiegelung falscher Tatsachen selbst ein. Was danach passierte, ist bis heute ungeklärt. Er wurde einige Tage später tot auf einer Landstraße bei Teterow gefunden, ein anderes Auto hatte ihn angefahren. Die genauen Umstände seines Todes sind nicht bekannt.
Nach dem Tod seines Bruders sagte Klaus-Dieter Gerecke in einem Interview des Studierendenmagazin »moritz« bei grellstem Sonnenschein auf dem Marktplatz vor der Kamera: »Was ist Glück für dich?« – »Glück? Hab ich niemals gehabt in meinem Leben.« – »Sind sie nicht glücklich, wenn Sie hier sitzen?« – »Das geht gar nicht.« – »Warum nicht?« – »Weil mein Bruder tot ist.«
Von der Zeitung »blitz« wurde Klaus-Dieter Gerecke als »unliebsamer Mahner« betitelt, weil er am Marktplatz umherging, Passant:innen Rainers Foto zeigte und ihnen von seinem Tod erzählte: »Die Leute haben sich angewidert weggedreht und wollten die Geschichte nicht hören.«
DIE TAT
Nicht einmal drei Monate nach dem gewaltsamen, bis heute unaufgeklärten Tod seines Bruders wird Klaus-Dieter Gerecke selbst Opfer einer Gewalttat.
Am Abend des 23. Juni 2000 treffen sich zwei 18-jährige Frauen und der 21-Jährige Maik G. in der Greifswalder Innenstadt zum Trinken und Umherziehen. Am Fischmarkt geraten sie in eine Auseinandersetzung mit anderen Jugendlichen und suchen weiter Streit. Nach einiger Zeit sehen sie Klaus-Dieter Gerecke, den sie aus dem Stadtbild kennen. Sie reden darüber, ob er wohl Geld habe, und bezeichnen ihn dabei abwertend als »Penner«.
Der Haupttäter Maik G. sagt später aus, von seinen beiden Begleiterinnen gegen Klaus-Dieter Gerecke aufgehetzt worden zu sein. Laut seiner Aussage fordern die beiden Frauen ihn explizit zur Tötung Klaus-Dieter Gereckes auf, den sie dabei als »Assi« beleidigen.
Zunächst verfolgen die drei Jugendlichen den 47-Jährigen bis zu einem Waschsalon, wo Maik G. ihn in ein Gespräch über das Leben auf der Straße verwickelt. Klaus-Dieter Gerecke gibt dem jungen Mann sogar noch ein Bier aus und verlässt anschließend den Waschsalon. Die jungen Leute verfolgen ihn jedoch weiter und Maik G. greift Klaus-Dieter Gerecke letztlich an, schlägt ihm ins Gesicht. Ein vorbeikommenderAutofahrer bietet Klaus-Dieter Gerecke Hilfe an, doch dieser lehnt das Angebot mitzufahren mit den Worten ab: »Chef, so ist das Leben.«
Der 21-jährige Maik G. folgt Klaus-Dieter Gerecke schließlich weiter bis zu einem Supermarkt in der Gützkower Straße, wo er ihn erneut attackiert, bis er zu Boden fällt. Es folgt eine Tortur aus Tritten, Schlägen und Erniedrigungen, die sich über eine Stunde erstreckt. Sie ist mehrfach von Pausen unterbrochen, in denen die Täter:innen mit einer anderen Gruppe Jugendlicher Zigaretten rauchen und sich über ihr Opfer lustig machen. Auf die Frage der dazustoßenden Jugendlichen, was sie machen, gibt ihnen Maik G. hemmungslos die gewaltvolle Antwort: »Penner wegschlagen«.
Als die Jugendlichen mit ihren Mopeds zu einer Tankstelle fahren wollen, um Zigaretten zu holen, raten sie Maik G. davon ab mitzukommen, weil seine Turnschuhe voller Blut seien. Auch die beiden 18-jährigen Frauen treten zwischenzeitlich auf den regungslos auf dem Rücken liegenden Klaus-Dieter Gerecke ein, nachdem der Haupttäter sie aufgefordert hat, »auch mal was zu machen«. Dann gehen sie zurück zur Gruppe der Mopedfahrer. Bevor diese den Tatort verlassen, leuchten sie den Schwerverletzten mit ihren Mopedscheinwerfern an. Dann fahren sie nach Hause.
Die beiden Angreiferinnen gehen zu Klaus-Dieter Gerecke, um nachzuschauen, ob er noch lebt. Als sie Maik G. mitteilen, dass ihr Opfer noch röchelt, tritt und schlägt dieser weiter auf Klaus-Dieter Gerecke ein. Vor Gericht sagen die beiden Frauen später aus, sie hätten Maik G. aufgefordert aufzuhören, und sich, als dies erfolglos blieb, an den Rand des Platzes auf eine Betonplatte gesetzt. Sie verständigen die Polizei und melden, dass sie beim Spazierengehen einen Schwerverletzten gefunden hätten. Maik G. versteckt sich in einer nahegelegenen Telefonzelle, wo er angetrunken einschläft.
Beim Eintreffen der Rettungskräfte ist Klaus-Dieter Gerecke seinen Verletzungen bereits erlegen.
JURISTISCHE AUFARBEITUNG
Die Erzählung der beiden 18-Jährigen steckte von Beginn an voller Widersprüche und sie galten unmittelbar als tatverdächtig. Maik G. wurde mit blutiger Kleidung gestellt und in Haft genommen. Die Staatsanwaltschaft erhob schnell Anklage.
Im November 2000 begann der Prozess vor dem Stralsunder Landgericht und kam nach nur drei Verhandlungstagen am 22. Dezember 2000 zum Abschluss. Maik G. wurde als Haupttäter wegen Totschlags zu einer siebenjährigen Haftstrafe nach Jugendstrafrecht verurteilt. Die zweijährige Haftstrafe der beiden Mittäterinnen wegen Körperverletzung mit Todesfolge wurde zur Bewährung ausgesetzt. Sie konnten den Gerichtssaal frei verlassen und ihre Ausbildungen weiterführen. Die jugendlichen Mopedfahrer, welche die Tat nicht verhindert hatten, blieben unbekannt.
Der Haupttäter war bereits mehrfach wegen Einbruchs vorbestraft, unter anderem mit Gefängnisaufenthalten. Das Gericht beschrieb seine »geistigen Möglichkeiten« als »beschränkt« und bescheinigte ihm aufgrund seiner »dissozialen Entwicklung« und Trunkenheit eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit. Womöglich kannte er Klaus-Dieter Gerecke schon zuvor, da er eine Zeitlang im selben Sozialwohnblock wie Rainer Gerecke wohnte, bei dem dessen Bruder oft übernachtete. 2http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/raub-mord-und-springerstiefel Während des Prozesses verhielt sich er sich teilnahmslos und schilderte die Tat ohne Reue und teilweise grinsend.
Die Misshandlungen beschrieb das Gericht als geprägt »von einer enormen Brutalität, einer langen Zeitdauer und von einem Verhöhnen des Opfers«. Die Tritte und Schläge hätten »an der Grenze des Mordmerkmals der Grausamkeit« gelegen.
Das Gericht sah jedoch »kein rechtsextremistisches Motiv« hinter der Tat – trotz der festgestellten menschenverachtenden Beleidigungen. Wie in vielen anderen Fällen wurde die anfängliche Forderung nach Geld als Motiv anstatt als provokativer Aufmacher für eine Schlägerei fehlinterpretiert und somit die Entpolitisierung der Tat durch die Täter gedeckt. Die Gründe für die sozialdarwinistischen, klassistischen Beleidigungen »Assi« und »Penner« wurden vor Gericht nicht erfragt. Über die Zugehörigkeit der drei Täter:innen zur rechten Szene wurde in der Stadt spekuliert, vom äußeren Erscheinungsbild war zumindest Maik G. dieser zuzuordnen. Während die rechte Szene in Internetforen eine Verbindung zu den Täter:innen verleugnete, konnte nachgewiesen werden, dass der Haupttäter zuvor an rechten Demonstrationen teilnahm2Interview 10/21. In einem Leserbrief wies die PDS-Politikerin (heute DIE LINKE) Uta Pauly darauf hin, dass so einer Tat eine faschistische Gesinnung zugrunde liege, unabhängig von der Zugehörigkeit zur rechten Szene.22000 – Ostsee-Zeitung – Leserbriefe: Die Stadt menschenfreundlich machen und Gewalt-Taten ächten Im Gerichtsverfahren spielte jedoch keiner dieser Aspekte eine Rolle.
»VERDIENT HAT ER DAS NICHT« – REAKTIONEN DER ZIVILGESELLSCHAFT
Unmittelbar nach der Tat folgte eine Welle der Bestürzung, Wut und Solidarität in Teilen der Zivilgesellschaft. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich in Greifswald die Nachricht, dass es sich bei dem toten 47-Jährigen um »Kläuser« handelte. Fünf Tage nach der Tat versammelten sich 300 Greifswalder:innen an der Todesstelle in der Gützkower Straße Ecke Scharnhorststraße. »Zum Gedenken und Nachdenken«, stand auf einem weißen Banner, das Klaus-Dieter Gereckes Bekannte und Mitstreiter:innen aus der Tagesstätte der Diakonie aufhängten. Darunter drängten sich die Menschen eng an ein selbstgebautes Holzkreuz mit seinem Namen und zündeten Kerzen an. In einem Beitrag des NDR-Nordmagazins über die Veranstaltung ist viel Kopfschütteln, Unverständnis und Wut unter den Anwesenden zu sehen. »Ich bin mit dem groß geworden. Von klein auf bin ich mit dem groß geworden. Und den hab ich so lieb, hab ich den Menschen.« sagt eine Bekannte. Es sind Rufe zu hören wie: »Verdient hat er das nicht.«.
Die Markthändler begannen Geld für eine würdige Beerdigung zu sammeln und auch einige Studentinnen starteten eine Sammelaktion. Innerhalb kürzester Zeit kamen so Tausende Mark zusammen. Noch wesentlich eindrucksvoller als dieser Geldbetrag waren die endlosen Seiten an Beileidsbekundungen und Unterschriften, die gesammelt wurden – vom angesehenen Händler bis zum stadtbekannten Schläger. Die Eigentümer des Grundstücks, auf dem Klaus-Dieter Gerecke getötet wurde, ließen mit Unterstützung des Steinmetzes einen Gedenkstein setzen. »Die persönliche Betroffenheit, die Verabscheuungswürdigkeit dieser Tat und die Notwendigkeit, über das Jahr 2000 daran zu erinnern«, hätten sie dazu bewogen, berichtete die Ostsee-Zeitung.22000 – Ostsee-Zeitung – Gedenktafel an „Kläuser“ in der Gützkower Straße
Ingo Stehr, Mitarbeiter der Tagesstätte und langjähriger Bekannter von Klaus-Dieter Gerecke erinnert sich an die Beerdigung: »Ich hab Klaus’ Urne getragen. So ein großes Ding. Die war doppelt so schwer wie er, haben wir gescherzt.“ Doch bei der Grabrede wären dann selbst den Härtesten die Tränen gekommen.»Der hat doch niemandem was getan, haben alle gesagt«, berichtet er.
Bei einer großen offiziellen Gedenkfeier im Dom sagte Oberbürgermeister von der Wense: »Seine Freunde vermissen ihn und auch wir vermissen Klaus-Dieter Gerecke.« In Reden auf der Gedenkfeier werden auch Angriffe auf Jugendliche und rassistische Übergriffe in den vorherigen Monaten benannt. Direkt danach schlossen sich 1000 Menschen einem Schweigemarsch gegen Gewalt an, den die Besucher:innen der Tagesstätte organisiert hatten. In Interviews hatten diese immer wieder darauf hingewiesen, dass Klaus-Dieter Gerecke bereits einer von vier wohnungslosen oder alkoholkranken Menschen war, die in den vergangenen fünf Jahren in Greifswald gewaltsam zu Tode gekommen waren, darunter auch Klaus’ Bruder Rainer. Der Musiker Thomas Putensen komponierte eigens ein Lied für Klaus-Dieter Gerecke, das zusammen mit einem Hör-Eindruck aus der Obdachlosen-Tagesstätte und der Gedenkrede von Pfarrer Stoepker veröffentlicht wurde.
Das Studentenmagazin »moritz« kommentierte in einem Nachruf: »Inzwischen sprechen die Menschen von Klausi wie von einem alten Bekannten. Vergessen haben offensichtlich die meisten von ihnen, dass sie noch kurze Zeit vorher lieber einen Bogen um den kleinen bärtigen Mann gemacht hatten. […] Greifswald erwacht. […] Viel zu viel wäre es, dem sinnlosen Tod von Klaus-Dieter Gerecke damit einen Sinn zuzuschreiben und dennoch ist es ein kleines, aber helles Zeichen der Hoffnung, solch unfassbaren Geschehnissen in Zukunft zuvorkommen zu können.«
Doch auch wenn viele Spenden und Solidaritätsbekundungen zustande kamen und positive Signale sendeten, waren viele Freunde und Bekannte Klaus-Dieter Gereckes eher resigniert. Wenige glaubten an eine angemessene Bestrafung der Jungen und zudem alkoholisierten Täter:innen. Andere Wohnungslose bewaffneten sich, um sich vor weiteren Übergriffen zu schützen.
Leider trug die Hoffnung der Zivilgesellschaft tatsächlich nicht lange: Im November 2000, noch bevor der Prozess gegen die Täter:innen begann, kam es in der Stadt zu einem weiteren Mord an einem Obdachlosen, dem weniger bekannten Eckard Rütz. Nachdem Greifswald nun im Spiegel als »Zone der Angst« betitelt wurde, war in Teilen der Bevölkerung die Sorge um das Image der Hansestadt größer als die Betroffenheit. Eckard Rütz’ Mörder nahmen direkt Bezug auf Klaus-Dieter Gereckes Tod: Während der Tat drohten sie Eckard Rütz mit der Frage, ob er nicht wisse, was mit Kläuser passiert sei.
GEDENKEN AN KLAUS-DIETER GERECKE – AUCH VIELE JAHRE SPÄTER
Die Diskussionen um die Einordnung des Mordes wurden auch in dem Bürgertheaterstück »Klaus« von Henriette Sehmsdorf 15 Jahre nach dessen Tod aufgegriffen. Nach einem Aufruf in der Zeitung fanden sich Greifswalder:innen zusammen, die gemeinsam mit der Regisseurin ein Theaterstück erarbeiteten, das komplett auf Originaldokumenten und Aussagen von Menschen basierte, die Klaus kannten. Im Jahr 2015 wurde es in der Mensa am Wall, einem von Klaus-Dieter Gereckes Lieblingsplätzen, uraufgeführt. »Wer ist hier verwahrlost – Klaus oder die Gesellschaft?«, stellt Dramaturg Sascha Löschner als Frage in den Raum. Zum Ende des Stückes laufen die Protagonist:innen in einer Reihe singend aus dem Raum, angeführt von einer Fahne mit einem Konterfei: Ein freundliches Augenpaar, umringt von Fältchen, schaut auf die Besucher herunter. Das comicähnliche und in schwarz-weiß gehaltene Bild zeigt einen älteren Mann mit Vollbart. Es ist ein Porträt von Klaus-Dieter Gerecke. Heute hängt es im Flur der Tages- und Beratungsstätte des Kreisdiakonischen Werks – dem Ort, der für Klaus-Dieter Gerecke, soweit bekannt, einem Zuhause am nächsten war.
Seit dem Jahr 2006 erinnert die Initiative »Schon Vergessen?« in der Hansestadt Greifswald an Klaus-Dieter Gerecke und Eckard Rütz, der nur wenige Monate nach Klaus-Dieter Gerecke von rechten Jugendlichen totgeschlagen wurde.
ANERKENNUNG ALS OPFER RECHTER GEWALT?
Nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios im, Jahr 2011 kam es aufgrund der Forderung von Opferverbänden auch in Mecklenburg-Vorpommern zu einer neuerlichen Überprüfung einiger Tötungsdelikte mit möglichem rechten Hintergrund. In diesem Zuge bestätigte der Anklamer Polizeisprecher Axel Falkenberg dem Nordkurier, dass das Gericht zwar »niedere Beweggründe« für den Angriff auf Klaus-Dieter Gerecke festgestellt habe, es von der Motivlage her »aber eindeutig gegen Obdachlose« ging. Dennoch ist Klaus-Dieter Gerecke von staatlicher Seite bis heute nicht als Opfer rechter Gewalt anerkannt.