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KEIN VERGESSEN.

TODESOPFER RECHTER GEWALT IN M-V

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Mehmet Turgut

gestorben am 25.02.2004
in Rostock

Mehmet Turgut wurde im Alter von 25 Jahren bei seiner Arbeit in einem Imbiss im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel von zwei Mitgliedern der rechten Terrorgruppe «Nationalsozialistischer Untergrund” (NSU) ermordet. Jahrelang ermitteln die Behörden im persönlichen Umfeld des Opfers und übersehen, dass die Tat Teil einer rassistischen Mordserie ist – bis sich drei Mitglieder der Gruppe selbst enttarnen und zu den Taten bekennen.

Mehmet Turgut wurde am 22. Mai 1979 im Dorf Kayalik Köyü in der Provinz Elâzığ, rund 300 Kilometer nördlich der türkisch-syrischen Grenze, geboren. Er war das erste von insgesamt fünf Kindern einer Familie von Landwirt:innen. Seine Familie nannte ihn Memo. Im Alter von 15 Jahren reiste Mehmet Turgut das erste Mal nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, weil er als Kurde in der Türkei verfolgt wurde. Sein Antrag wurde abgelehnt, woraufhin er das erste Mal untertauchte. Er wurde Ende 1996 in Hamburg verhaftet und in die Türkei abgeschoben, zu diesem Zeitpunkt war er 17 Jahre alt. Zwei Jahre später reiste er erneut nach Deutschland. Wieder wurde sein Asylantrag abgelehnt, wieder tauchte er ab. Im Sommer 2000 wurde er erneut abgeschoben. Nach einer erneuten Einreise musste er im Sommer 2003 wieder abtauchen. Sein Bruder Mustafa sprach später davon, dass Deutschland »wie ein Sog für ihn« war. Hier wollte er das Geld verdienen, das er brauchte, um sich eine selbstständige Existenz in der Türkei aufzubauen.

Anfang 2004 meldete er sich bei einem alten Freund seines Vaters, der in Rostock-Toitenwinkel seit zehn Jahren einen Imbissstand betrieb. Dieser stammt aus demselben Dorf wie Turguts Familie. Er nahm ihn in seiner Wohnung auf und ließ ihn in seinem Geschäft aushilfsweise arbeiten.

Am 25. Februar 2004 schließt der junge Mann gegen zehn Uhr den abgelegenen Imbissstand »Mr. Kebab Grill« im Neudierkower Weg 2 auf und bedient einen Kunden. Es ist erst sein zehnter Tag in Rostock. Den Ermittlungen zufolge betreten der oder die Täter:innen den Imbiss gegen 10.10 Uhr und schießen auf Mehmet Turgut. Sie treffen ihn an Kopf, Hals und Nacken. Ein weiterer Schuss verfehlt sein Ziel. Ein ermittelnder Polizeibeamter sagte später: »Die Täter sind rein, haben ihr Opfer zu Boden gebracht, fixiert und getötet, anders kann ich das nicht erklären.«

Um 10:20 Uhr findet der Imbissbesitzer den schwer verletzten, aber noch lebenden Mehmet Turgut. Er zieht ihn ins Freie, ein Passant alarmiert die Rettungskräfte, die wenige Minuten später eintreffen. Mehmet Turgut erliegt um 11:09 Uhr im Rettungswagen seinen schweren Verletzungen.

Er wurde nur 25 Jahre alt. Sein Leichnam wurde später in seinem Heimatort beerdigt. Seine Mutter besuchte täglich sein Grab, bis die Familie das Dorf schließlich verlassen musste.

Behördenversagen und Selbstenttarnung

Zunächst übernahm die Morduntersuchungskommission der Kriminalpolizeiinspektion Rostock die Ermittlungen. Im Juni 2006 übergab sie diese Aufgabe an die eigens eingerichtete Sonderkommission »Komoran« im Landeskriminalamt MV. Bereits im März 2004 stand fest, dass die verwendete Tatwaffe die gleiche war, die bereits bei Morden in Nürnberg, Hamburg und München verwendet wurde. Die Ermittlungsbehörden nannten diese Mordserie daher nach dem Modell der Waffe die »Ceska-Morde.« Diesen bundesweiten Zusammenhang machte die Rostocker Polizei schon kurze Zeit nach dem Mord öffentlich, betonte aber gleichzeitig: »Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden.«

Im Rahmen der weiteren Ermittlungen reisten wiederholt Ermittler:innen in die Türkei, um Angehörige der Familie Turgut und Nachbar:innen zu befragen. Dabei wurden immer wieder Vermutungen geäußert, der Mord wäre aus dem persönlichen Umfeld des Opfers begangen worden oder habe etwas mit möglichen Drogengeschäften zu tun. Dieses Vorgehen sorgte dafür, dass die im Wohnort der Familie Turgut ohnehin kursierenden Gerüchte zum Mordmotiv weiter zunahmen. Dem sozialen Druck im Dorf konnten die Turguts neben ihrer Trauer und der Ungewissheit über die wahren Tatumstände nicht länger standhalten. Deshalb sahen sie sich gezwungen, in einen anderen Ort umzuziehen. Mustafa Turgut schildert die Situation später so:

»Memos Mörder hatten meinen Eltern nicht nur den Sohn geraubt, sie hatten ihnen auch die Heimat, die Freunde und Verwandten genommen.«

Mustafa Turgut

Am 7. September 2011 stellte die Rostocker Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zum Mord an Mehmet Turgut ein. Doch knapp zwei Monate später änderte sich die Bewertung des Mordanschlags grundlegend. Am 4. November 2011 fand die Polizei in einem brennenden Wohnmobil in Eisenach die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Sie hatten sich nach einem gescheiterten Banküberfall erschossen. Vier Tage später stellte sich mit Beate Zschäpe ein weiteres Mitglied des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) der Polizei. Zuvor hatte sie Bekennervideos verschickt, in denen sich der NSU zur Mordserie bekannte, der auch Mehmet Turgut zum Opfer fiel. Die Rechtsterroristen hatten zwischen 2000 und 2007 neun Männer mit türkischer bzw. griechischer Migrationsgeschichte und eine Polizistin erschossen, mehrere Sprengstoffanschläge verübt und zahlreiche Banküberfälle begangen.

Nach mehr als sieben Jahren Ungewissheit erfuhren nun auch die Angehörigen von Mehmet Turgut, wer ihren Sohn bzw. Bruder ermordet hatte. Mustafa Turgut schrieb dazu später:

»Jetzt ist die Zeit der Anschuldigungen und Gerüchte endlich vorbei. Endlich! Auch von meinen Eltern ist damit eine Last abgefallen. Nach all den Verdächtigungen hatten sie ja schon selbst das Gefühl, schuldig zu sein.«

Mustafa Turgut

Nun übernahm das Bundeskriminalamt im Auftrag des Generalbundesanwalts die Ermittlungen zu den Verbrechen des NSU. In Mecklenburg-Vorpommern wurde die Besondere Aufbauorganisation »TRIO M-V«  eingerichtet, um weitere Ermittlungen anzustellen. Diverse (Urlaubs-)Aufenthalte des Kerntrios im Bundesland wurden in der Folge genauso untersucht wie Verbindungen in regionale Neonazistrukturen. Zunächst waren es aber vor allem journalistische und antifaschistische Recherchen, die zahlreiche Bezüge nach Mecklenburg-Vorpommern öffentlich machten. So berichtete etwa das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum (apabiz) aus Berlin im März 2012, dass bereits im Jahr 2002 in einem neonazistischen Fanzine eine Grußbotschaft an den NSU veröffentlicht wurde. Wahrscheinlich die erste öffentliche Erwähnung des Terrornetzwerks. Verantwortlich für das Heft war zu diesem Zeitpunkt der spätere NPD-Abgeordnete im Schweriner Landtag David Petereit.

Am 6. Mai 2013 begann dann am Münchner Oberlandesgericht der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Personen aus dem NSU-Netzwerk. Zschäpe wurde wegen zehnfachen Mordes, versuchten Mordes, schwerer Brandstiftung, Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Die Mitangeklagten mussten sich wegen Beihilfe zum Mord bzw. versuchten Mordes und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Dem Verfahren schlossen sich 95 Angehörige und Überlebende des NSU-Terrors als Nebenkläger:innen an, unter ihnen auch Mehmet Turguts Brüder Mustafa und Yunus. Am 18. Juli 2017 endete in einem der größten Strafprozesse der bundesdeutschen Geschichte nach 372 Verhandlungstagen die Beweisaufnahme. Knapp ein Jahr später wurden die Urteile verkündet. Beate Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die Mitangeklagten zu Haftstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren. Das letzte Urteil wurde erst am 15. Dezember 2021 rechtskräftig.

Fehlender Aufklärungswille

Trotz zahlreicher Belege für ein rechtsterroristisches Netzwerk vertrat die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer im Juli 2017 weiterhin die These einer isolierten Zelle von drei Personen, die nur von wenigen Neonazis unterstützt wurde. Eine umfassende Aufklärung des NSU-Komplexes, den sich viele der Nebenkläger:innen im Mai 2013 erhofft hatten, fand vor dem Münchner Gericht nicht statt. Strafverfahren gegen weitere Personen aus dem NSU-Netzwerk sind bis heute nicht eröffnet worden.

Eine weitere Gelegenheit zu umfassender Aufklärung, wie sie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel Angehörigen und Überlebenden im Februar 2012 versprochen hatte, boten zahlreiche Parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUA) auf Landes- und Bundesebene. Schon im Januar 2012 setzte der Deutsche Bundestag den ersten PUA zum Thema ein, im Oktober 2015 folgte ein weiterer. Auch der erste Ausschuss im Thüringer Landtag begann bereits im Februar 2012 mit seiner Arbeit. Es folgten Ausschüsse in sechs weiteren Bundesländern. Auch in Mecklenburg- Vorpommern war bereits im Dezember 2012 ein PUA zu den Taten des NSU und der Rolle der Sicherheitsbehörden im Bundesland in Sicht, scheiterte aber an der Zustimmung der damaligen Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Im Jahr 2016 wurde stattdessen ein Ausschuss ohne Befugnisse eingesetzt, der entsprechend wenig Ergebnisse brachte. Erst im Mai 2018 und damit mehr als 14 Jahre nach dem Mord an Mehmet Turgut wurde im Schweriner Schloss ein PUA zum NSU-Komplex eingerichtet. Dessen Arbeit wurde immer wieder durch fehlende Zuarbeit aus dem Landesinnenministerium erschwert. Im Dezember 2021 beschloss der Landtag eine Fortsetzung der Ausschussarbeit.

Gedenken – Widerstände

Als im November 2011 bekannt wurde, dass Mehmet Turgut von Neonazis ermordet wurde, fand schon wenige Tage später die erste Gedenkkundgebung statt. Seit 2012 erinnern am 25. Februar alljährlich Menschen am Tatort im Neudierkower Weg an den dort Ermordeten, regelmäßig im Beisein von Familienangehörigen. Organisiert wird das Gedenken vor allem von der Initiative »Mord verjährt nicht!«. Im Februar 2014 erfolgte die offizielle Einweihung eines Gedenkortes. Seitdem finden die Gedenkveranstaltungen in Zusammenarbeit mit der Hansestadt Rostock statt. Kritisiert wird jedoch bis heute die angebrachte Inschrift. Sie thematisiert weder Rassismus als Tatmotiv, noch benennt sie die weiteren Todesopfer. Auch die Forderung der Familie Turgut nach Anbringung eines Fotos des Ermordeten ist bis heute nicht erfüllt worden. Dies gilt auch für Forderungen nach einer Straßenumbenennung, die bereits seit 2011 existieren und die besonders von Mustafa Turgut immer wieder im Namen seiner gesamten Familie bekräftigt werden. Bereits im Frühjahr 2012 wurde in der Rostocker Bürgerschaft ein Antrag zu einer Umbenennung des Neudierkower Wegs in Mehmet-Turgut-Weg auf den Weg gebracht, scheiterte aber am Veto eines der beiden zuständigen Ortsbeiräte. In der öffentlichen Diskussion zur geplanten Umbenennung äußerten sich Gegner:innen teilweise offen rassistisch, indem sie betonten, dass das Opfer ja nicht »von hier« sei und sich möglicherweise illegal im Land aufgehalten habe.

Seit 2012 gab es von Seiten der Stadtpolitik keine ernsthaften Bestrebungen mehr, eine solche Straßenumbenennung umzusetzen.

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