Rostock – „Mord verjährt nicht!“
Zivilgesellschaftliches Gedenken
Die Erinnerung an Mehmet Turgut nahm in Rostock ihren Anfang in der linken Szene der Stadt. Bereits wenige Tage nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 fand eine Kundgebung in Gedenken an alle Todesopfer rechter Gewalt statt, die insbesondere von selbstkritischen Tönen einer politischen Szene geprägt war, die sich fragte, warum Neonazis jahrelang mordend durch die Republik ziehen konnten.
Am ersten Todestag nach Bekanntwerden des NSU fand am Tatort im Stadtteil Toitenwinkel eine aus der Zivilgesellschaft heraus organisierte erste Gedenkkundgebung für Mehmet Turgut statt. Neben vornehmlich linken Gruppen mobilisierte zu dieser auch der Migrantenrat der Stadt. Bundesweite Aufmerksamkeit erlangte die Veranstaltung indes durch eine versuchten Naziangriff auf das Gedenken. Gleichwohl konnte das Gedenken erste inhaltliche Impulse setzen, die das zivilgesellschaftliche Engagement der kommenden Jahre prägen sollten. Das in den Vormonaten entstandene Bündnis „Erinnern – Verantworten – Aufklären“ forderte die Umbenennung des Neudierkower Weges in Mehmet-Turgut-Weg sowie die Schaffung eines Erinnerungsortes durch die Stadt. Zudem wurde an politische Verantwortungsträger:innen und Sicherheitsbehörden appelliert, die rassistische Mordserie des NSU lückenlos aufzuklären.
Das Bündnis setzte sich insbesondere für die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Schweriner Landtag ein. Nachdem dieser im ersten Anlauf nicht zu Stande kam, ging aus dem Bündnis „Erinnern – Verantworten – Aufklären“ die Gedenkinitiative „Mord verjährt nicht!“ hervor. Seit 2013 bemüht sich diese vor allem um die Herausbildung und Verstetigung einer lokalen Erinnerungskultur sowie um die Berücksichtigung der Wünsche der Familie Turgut. In Kooperation mit der Hanse- und Universitätsstadt Rostock veranstaltet „Mord verjährt nicht!“ das jährliche Gedenken an Mehmet Turgut und versucht mit verschiedenen Formaten, inhaltliche bzw. erinnerungspolitische Impulse für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Mordserie des NSU zu setzen.
Straßenumbenennung
Im Frühjahr 2012 nahmen sich Die Linke und der Rostocker Bund in der Bürgerschaft der Forderung einer Straßenumbenennung an. In einer gemeinsamen Beschlussvorlage für die Rostocker Bürgerschaft hieß es:
„Mehmet Turgut wurde am Vormittag des 25. Februar 2004 von Tätern der rechten Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) im Neudierkower Weg ermordet. Er ist eines von bisher 10 bekannten Todesopfern dieser Terrorzelle. Diese abscheulichen Taten dürfen nicht vergessen werden! Die Benennung einer Straße, in diesem Fall eines Weges, ist ein Akt dauerhafter Mahnung und Ausdruck der Solidarität mit der Familie Turgut, die gemäß der Grundsätze der Straßenbenennungssatzung gehört werden sollte. Diese Straßenbenennung ist ein würdiger Anfang in einer Reihe verschiedener Vorschläge zur gesellschaftlichen und politischen Ächtung neonazistischer Gewalt und neonazistischen Gedankenguts. Das Einvernehmen mit dem zuständigen Ortsbeirat ist ebenfalls satzungsgemäß herzustellen.“
Da das Rostocker Kommunalrecht allerdings den Ortsbeiräten die Entscheidungskompetenz für Straßenumbenennungen zuweist, musste der Vorstoß der beiden Fraktionen vor allem als Signal für die öffentliche Debatte verstanden werden. Im Falle des Neudierkower Weges bedarf es der Zustimmung von gleich zwei Ortsbeiräten, durch deren Einzugsbereiche der kleine Weg am Tatort verläuft. Im Ortsbeirat Toitenwinkel wurde eine Beschlussfassung zunächst vertagt, ehedem der Ortsbeirat Dierkow Ost/West gegen eine Umbenennung votierte. Die im Protokoll vermerkten Einwände gegen eine Straßenumbenennung zeugen von einer fortwährenden Exkludierung Mehmet Turguts und einer zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht vorhandenen Sensibilität für das Thema. Die Forderung nach einer Straßenumbenennung war damit kommunalpolitisch gescheitert.
Die Umbenennung des Neudierkower Weges ist seit vielen Jahren der ausdrückliche Wunsch der Familie Turgut. Trotz wiederholter zivilgesellschaftlicher Appelle und kommunalpolitischer Anstöße konnte dieser Wunsch bis heute nicht erfüllt werden.
Gedenkort
Ein Mahnmal in Erinnerung an Mehmet Turgut wurde zu dessen zehntem Todestag am 25. Februar 2014 am Tatort eingeweiht. Nachdem der Tatort in den Vorjahren durch Aktivist:innen mittels einer transportablen Holztafel temporär als Erinnerungsort kenntlich gemacht wurde, war nun eine zentrale Forderung sowohl der Familie Turgut als auch der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure umgesetzt und ein dauerhaftes Erinnerungszeichen geschaffen.
Allerdings ging dem ein mitunter zäher Prozess voraus. Rostock war die letzte NSU-Tatortstadt, in der ein Mahnmal errichtet wurde. Die im damaligen Bündnis „Erinnern – Verantworten – Aufklären“ versammelten Vereine, Gruppen und Einzelpersonen forderten mit Nachdruck eine Umsetzung bis spätestens zum zehnten Todestag Mehmet Turguts.
Bereits im Frühjahr 2012 hatten sich die Oberbürgermeister:innen der NSU-Tatortstädte auf eine gemeinsame Erklärung verständigt. In dieser wurden die Opfer benannt und sowohl das Behördenversagen als auch der rassistische Hintergrund der Taten problematisiert. Die Oberbürgermeister:innen einigten sich zudem darauf, in ihren Städten zeitnah Stelen mit jener gemeinsamen Erklärung in Gedenken an die Opfer zu errichten.
Die Stadt Rostock ging jedoch – trotz Zustimmung des damaligen Oberbürgermeisters Roland Methling zu der besagten Erklärung – einen Sonderweg. In einer im Nachgang des 20. Jahrestages des Pogroms von Lichtenhagen konstituierten AG Gedenken der Bürgerschaft setzten sich Stimmen durch, die einen eigenen Text für den Rostocker Gedenkort forderten. Im Ergebnis wurde der neu konzipierte deutsche Text zwar um eine türkische Übersetzung ergänzt, fiel inhaltlich aber hinter die gemeinsame Oberbürgermeister:innen-Erklärung von 2012 zurück. So wurde etwa aus „rassistisch motivierter Terror“, eine Formulierung, die das Tatmotiv deutlich benennt, nunmehr „rechtsextremistischer Terror“. Somit wurde eine Semantik gewählt, die dazu geeignet ist, die gesamtgesellschaftliche Relevanz des ideologischen Motivs der Taten des NSU zu verdecken. Für die Gedenkinitiative „Mord verjährt nicht!“ ist es daher umso wichtiger, stets in Erinnerung zu rufen, dass die Abscheu vor den Morden des NSU für eine vitale Erinnerungskultur nicht genügen kann, sondern dass den rassistische Kontinuitäten in der Stadtgesellschaft und der fortwährenden Gefahr rechter Gewalt entschlossen begegnet werden muss.
Wie weiter?
Das Gedenken an Mehmet Turgut hat sich etabliert. Hunderte Menschen nehmen jedes Jahr an der Gedenkveranstaltung teil. Zwischen der Initiative „Mord verjährt nicht!“ und der Hanse- und Universitätsstadt Rostock hat sich ein gutes Kooperationsverhältnis entwickelt. Auf den Veranstaltungen kommen Angehörige, zivilgesellschaftliche Akteure und offizielle Vertreter:innen der Stadt zu Wort. Sie alle sind sich einig, dass kein Zweifel daran gelassen werden darf, dass es wichtig ist, Mehmet Turgut auf diesen Weg zu würdigen.
Dennoch ist das Kapitel Gedenken noch nicht abgeschlossen. Obwohl im Bereich der lokalen Erinnerungskultur viel erreicht wurde, bleibt die Verantwortung einer kritischen Zivilgesellschaft, eine politische Aufarbeitung der Ermordung Mehmet Turguts einzufordern. Dass seit nunmehr 2018 ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Taten des NSU in Mecklenburg-Vorpommern aufzuklären versucht, war nach einem gescheiterten ersten Anlauf im Jahr 2013 ein überfälliger Schritt. Von einer wirklichen Aufklärung kann bislang aber nicht die Rede sein.
Abschließend bleibt für die Initiative „Mord verjährt nicht“ die Umbenennung des Neudierkower Weges ein zentrales Anliegen. Es handelt sich nicht zuletzt um den Wunsch der Familie Turgut. Eine Umbenennung wäre ein sichtbares Zeichen, dass Mehmet Turgut zu der Stadt und Nachbarschaft gehörte, und ein Nachweis, dass die Angehörigen wirklich gehört werden.
Gedenkinitiative „Mord verjährt nicht!“